Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Walter Scheidt

(27. Juli 1895 Weiler im Allgäu – 9. Juli 1976 Lindenberg/ Allgäu)
Anthropologe/Rassenbiologe
Adresse 1931 bis 1966: Höpen 36 (Hamburg-Langenhorn)
Wirkungsstätte: Rassenbiologisches Institut der Universität Hamburg, Mollerstraße 2
1924 bis 1933 Museum für Völkerkunde Hamburg
1933 bis 1964 Universität Hamburg


Er war nie in der NSDAP. Er war auch kein Hamburger. Dennoch war er seit den 1920er- Jahren und von 1933 bis 1945 ein das Hamburger akademische Leben beeinflussender Wissenschaftler – unter wechselnden Bezeichnungen: Biologe, Anthropologe, Rassenhygieniker. Seine Bemühungen um Einfluss waren aber nicht auf den universitären Bereich begrenzt; er hatte Kontakt zu völkisch-niederdeutschen Kreisen und war schulpolitisch aktiv, war nebenbei – unter Benutzung eines Pseudonyms – auch als völkischer Schriftsteller nicht ohne Erfolg. Sein universitäres Wirken ging bruchlos nach 1945 weiter und endete erst mit seiner Emeritierung im Jahr 1964.

Professor Dr. Walter Scheidt, von dem hier die Rede ist, wird in der Reihe prominenter Erbforscher, Rassenkundler, -biologen und -hygieniker, Eugeniker und Bevölkerungswissenschaftler der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“ nicht unbedingt (mehr) an erster Stelle erwähnt. Neben anderen sind eher Erwin Baur, Fritz Lenz und Eugen Fischer, Ludwig Ferdinand Clauß, Ernst Rüdin, Otmar Freiherr v. Verschuer und Hans F. K. Günther bekannt. Und doch war es Scheidt, der seit den 1920er-Jahren „einen hervorragenden wissenschaftlichen Ruf genoß“; und „gegen Ende der zwanziger Jahre nahm er zusammen mit Eugen Fischer, Fritz Lenz, Ernst Rüdin und anderen eine Spitzenposition in der deutschen 'Rassenhygiene' ein.“[1]

Walter Scheidt, Sohn eines Zahnarztes, machte sein Abitur am humanistischen Gymnasium in Kempten/Allgäu, nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil und studierte danach in München. Medizin (allerdings ohne Abschluss) und vor allem Naturwissenschaften waren seine Fächer. Er beendete das Studium mit einer naturwissenschaftlichen Promotion (1921), arbeitete danach als Assistent am Anthropologischen Institut der Universität München und habilitierte sich drei Jahre später auf dem Gebiet Rassenkunde. Privatdozent Scheidt war somit ab dem 1. Oktober 1924 Leiter der Anthropologischen Abteilung (später „Rassenkundliche Abteilung“) des Museums für Völkerkunde in Hamburg. Seit 1928 trug er den Titel eines außerordentlichen Professors.[2]

Seine Variante der Rassenkunde machte ihn in Fachkreisen bekannt und ließ Hamburg zu einem vielversprechenden Stützpunkt der Rassenwissenschaft werden. Eugen Fischer (1874-1967) beispielsweise war eine der weithin unangefochtenen Größen der Rassenbiologie in Deutschland (1927 bis 1942 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin). Er gab seinen anfänglich „überkommenen, statischen, taxonomisch angelegten, von morphologischen Merkmalen ausgehenden Rassenbegriff zugunsten eines dynamischen, evolutionsbiologisch aufgefaßten, genetisch begründeten Rassenbegriffs auf. Damit rückte er von der Vorstellung a priori gegebener reiner Systemrassen, die den Rassentypologien des 19. Jahrhunderts zugrundegelegen hatte, ab und näherte sich – in Anklang an Walter Scheidt (1895-1976) der Vorstellung von Lokalrassen oder Menschenschlägen an, rasch wandelbarer Gruppen mit einer relativen Häufung spezifischer Erbanlagen, die wiederum als Produkt von Auslese und Anpassung in geographischer Isolation aufgefaßt wurden. Fischers Konzept der Sozialanthropologie schließlich faßte Anthropologie als angewandte Wissenschaft auf, als Basis für eine wissenschaftlich angeleitete Biopolitik: Anthropologie, Humangenetik und Rassenhygiene/Eugenik bildeten im Denken Fischers eine unauflösliche Einheit.“[3]

Scheidts Vorstellung von Rassenbiologie entsprach diesem Konzept.[4] Ein erstes Beispiel praktischer Rassenforschung, das diese Ideen umsetzen wollte, lieferte er 1925/26 in einem Projekt, das er kennzeichnender Weise in Finkenwerder, der relativ separierten, zu Hamburg gehörenden „Elbinsel“, durchführte.

Er untersuchte dort eine „virtuell rekonstruierte“[5] Bevölkerung, d.h. nur jenen begrenzten Teil der Einwohner, den er als ursprüngliche, eigentliche Finkenwerder anerkannte. Andere Bewohner Finkenwerders waren lediglich Zugezogene, rassenbiologisch sozusagen irrelevante Eindringlinge. So befasste sich Scheidt letztlich mit rund 150 Personen. Er maß und beschrieb ihr Äußeres: Schädelform, Körpergröße, Augen- und Haarfarbe usw. (Bei aller methodischer Modernität war das Schädel- und sonstige Knochenvermessen auch bei Scheidt noch selbstverständlich integriertes, anthropologisches und rassenbiologisches Instrumentarium). Porträt-Fotografien ergänzten das Material. Außerdem wertete er genealogische Informationen zur Familien- und Sippengeschichte aus (etwa auf Grundlage von Kirchenbüchern) und versuchte die unterschiedlichen Grade von Lebenstüchtigkeit und -erfolg („Bewährung“) der Familien über Jahrhunderte festzustellen. Soweit irgend möglich wurden Daten mathematisch-statistisch dargestellt, ausgewertet und aufbereitet.

Diese Art wissenschaftlicher Evidenz brauchte eine Ergänzung, um Aussagen über die seelische, charakterliche, wesensmäßige Seite der so Erfassten machen zu können. Scheidt war nie an einzelnen Individuen interessiert, und intuitive, vage, für subjektive Interpretationen anfällige Einschätzungen lehnte er als unwissenschaftlich ab. Stattdessen bediente er sich der vermeintlich hilfreichen Befunde eines dilettierenden Volkskundlers – in diesem Fall des niederdeutsch-bewegten Finkenwerder Lehrers und Schriftstellers Hinrich Wriede. Aus dessen generalisierenden, teils anekdotischen Feststellungen und Erzählungen zu Sitten, Gebräuchen, Lebensgewohnheiten, der Sprache etc. sollte die „Wesensart“ dieses „Menschenschlags“ darstellbar sein.

Die inneren Widersprüche und Unzulänglichkeiten dieser „Wissenschaftlichkeit“ hier zu erörtern, erübrigt sich.[6] Das Ergebnis aller Vermessung, Erhebung und Berechnung war jedenfalls, auch schon in Anbetracht des getriebenen Aufwands, eher dürftig zu nennen: „Die meisten Eigenschaften [der Finkenwerder] werden herkömmlicher[-] und wohl auch berechtigterweise der nordischen Rasse zugeschrieben.“ Ähnlich vage und ungewiss („möglicherweise“, „wohl“, „wahrscheinlich“, „soweit möglich“ usw.) lautete das Fazit, „aus der immerhin größeren Ähnlichkeit der Finkenwärder Eigenschaftsgruppe mit der als nordisch beschriebenen Rasse (und wahrscheinlich auch mit der als nordisch angesehenen frühgeschichtlichen Bevölkerung Nordwestdeutschlands) läßt es sich wohl rechtfertigen, in der Eigenschaftsgruppe der Finkenwärder einen Schlag nordischer Rasse zu sehen.“ Schließlich: „Soweit die Möglichkeiten einer statistischen Nachprüfung reichen, berechtigen also die Ergebnisse derselben auch zu dem Schluß, daß die vorstehenden Schilderungen des Finkenwärder Volkstums und der körperlichen Beschaffenheit der Leute die typische ererbte Eigenart des Finkenwärder Menschenschlages beschreiben.“[7]

Eugen Fischer zeigte sich beeindruckt, hielt die Studie für vorbildlich und entwickelte ein Forschungsprogramm mit dem Ziel, ganz Deutschland auf diese Weise „mit einem Beobachtungsnetz zu überziehen, das immer enger werden müsse“.[8] Dabei sollten die Hamburger Anthropologen vom „Völkerkundemuseum“ (Thilenius und Scheidt) eines der „regionalen Zentren“ bilden. Fischer machte sich für eine ab 1928 geplante „Vielzahl von Projekten“ stark, die „vor allem initiiert [waren] von Walter Scheidt“ (neben anderen Rassenbiologen).[9]

So sollte in Zukunft eine vielbändige „Deutsche Rassenkunde“ erarbeitet werden. Als Band 1 erschien 1929 von Willy Klenck und Walter Scheidt eine Darstellung von Elbe-Weser Geestbauern.[10] Unter Scheidt wurde in diesem Zusammenhang u.a. auch eine große Untersuchung der Schwalm-Bevölkerung (Hessen) begonnen, die eine „Genealogie der Schwalmer Bauernbevölkerung von 1575 bis zur Gegenwart“ erbringen sollte. 1935 wurde das Projekt an v. Verschuer übergeben, in dessen Begründungsschrift an die Adresse der Deutschen Forschungsgemeinschaft (20. Februar 1936) es hieß, diese Studie könne „praktischen Aufgaben der Erb- und Rassenpflege [dienen], indem sie Unterlagen für den weiteren Ausbau der Sterilisierung, der Eheberatung und anderer Maßnahmen liefert.“[11]

Scheidt hatte seine Finkenwerder-Untersuchungen weiter ausgebaut und auch sonst viel geforscht und veröffentlicht. [12] 1933, nach der Etablierung des NS-geführten Senats unter Reichsstatthalter und Gauleiter Kaufmann, ging es darum, die Universität Hamburg (nun in „Hansische Universität“ umbenannt) nationalsozialistisch auszurichten - im Einklang mit den Vorgaben des nationalsozialistischen Regierungsdirektors der Hochschulbehörde (1933) bzw. Rektors (ab 1934) Gustav Adolf Rein (1885-1979) – Professor für „Kolonial- und Überseegeschichte“.[13] (Rein hatte seine Vorstellungen schon 1932 in seiner Schrift „Die Idee der politischen Universität“ programmatisch vorgestellt.) Jetzt schien eine gebührende Berücksichtigung der NS-Rassenideologie unumgänglich. Sowohl kostensparend als auch ideologisch hinreichend angemessen erwies sich - wenn auch begleitet von internen Querelen – die schließlich gefundene Lösung: Dr. Walter Scheidt wurde im Oktober 1933 zum ordentlichen Professor für „Rassen- und Kulturbiologie“ an der Philosophischen Fakultät ernannt. Kostengünstig war diese Regelung deshalb, weil keine neue Professorenstelle eingerichtet wurde, sondern die des entlassenen, ins Exil getriebenen jüdischen Philosophen Ernst Cassirer umgewidmet wurde, und Scheidts Anthropologische Abteilung am Völkerkundemuseum wurde in ein „Rassenbiologisches Institut“ der Universität umgewandelt, dessen Direktor Scheidt war.[14]

In diesen entscheidenden Umbruchszeiten meldete sich Scheidt mehrfach zu Wort. Er sah nun die große Stunde für das, was er Rassen- und Kulturbiologie nannte.

„Die Rassenbiologie ist der Oberbau der Gesamtbiologie unserer Zeit. Sie hat die allgemeinbiologischen Ergebnisse der Erblichkeits- und Ausleselehre auf den Menschen angewendet und ist damit in den Bereich der seelischen Lebensäußerungen vorgedrungen. Dadurch ist eine lebensgesetzliche Betrachtung der kulturellen Erscheinungen möglich geworden. Diente die Naturkunde bis zum Auftreten der Rassenbiologie nur einer individualistischen Naturbeherrschung (durch Technik und Heilkunst), so hat die rassenbiologische Erkenntnis der überindividuellen (generativen) Lebensgesetze eine exakt wissenschaftlich begründete Kunst der staatlichen, überindividuellen Lebensgestaltung geschaffen. Zu der auf das Leben des einzelnen beschränkten angewandten Naturkunde, der Heilkunst, trat die Bevölkerungspolitik (als Anwendung der Bevölkerungsbiologie) und die Rassenhygiene oder Kulturpolitik (als Anwendung der biologischen Geschichtsforschung oder Kulturbiologie)“. Zur wenig präzisen Begrifflichkeit sei hier auf Scheidts „Definition“ verwiesen: „Rassenhygiene ist nichts anderes als angewandte Rassenbiologie.“[15]

Dass Scheidt mit seiner Sicht, die Grundlage jedweder kultureller, staatlicher, politischer „Lebensgestaltung“ sei die Rassenbiologie, nicht so weit von den offiziellen Verlautbarungen der NSDAP-Rassisten entfernt war, wie es manchmal und manchem scheinen will[16], zeigt beispielsweise folgendes Zitat des Mediziners Walter Groß (Leiter des „Rassenpolitischen Amts der NSDAP“), mit dem Scheidt später auch Auseinandersetzungen hatte:

„Die Rassenhygiene ist nicht eine Erweiterung hygienischer Betrachtungen über das Individuum hinaus, etwa auf die 'Erbmasse', wie man das manchmal sagen hört. Sie ist vielmehr eine völlig neue Betrachtungsweise, die nicht nur im Bereich der 'Hygiene', sondern im Bereich der Gesamtmedizin, darüber hinaus aber im Bereich unseres ganzen öffentlichen Lebens der sozialen, der wirtschaftlichen, der rechtlichen Lebensbedingungen die Auslesevorgänge im streng biologischen Sinne untersucht bzw. in ihrem praktischen Teil lenken will. Die Rassenhygiene greift also über das Gebiet hygienischer Fragestellungen auf so ziemlich alle medizinischen Disziplinen über, sie greift über alle Gebiete der Medizin noch einmal hinaus in das weite Reich der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflüsse, auf die Auslesevorgänge überhaupt. Sie erfordert ein Durchdenken unzähliger Teilgebiete unserer Lebensbedingungen auf ihre auslesende oder gegenauslesende Wirkung hin und sie erfordert dementsprechend sachliche Kenntnisse, die verschiedenste Gebiete unseres öffentlichen Lebens unter solchem Gesichtspunkt zu prüfen gestatten.“[17]

Den grundsätzlichen und umfassenden Anspruch, alle Lebensbereiche rassenbiologisch erklären und steuern zu wollen, wie ihn auch Groß zu erkennen gibt, setzte Scheidt 1933 sogleich in konkrete Forderungen um. Seine Überlegungen zur Politik und Biologie waren nicht unbedacht in der „Hamburger Lehrerzeitung“ erschienen. So verlangte er, dass Schulunterricht und Lehrerbildung rassenbiologisch fundiert werden sollten, was sich in der Lehrerausbildung in Hamburg auch niederschlug; er wurde mit der „rassenbiologischen Lehrerfortbildung“ betraut. (Was die Unterrichtsgestaltung an Volks- und Höheren Schulen betraf, folgten entsprechende Verordnungen in Hamburg, später auch zentrale vom Reichserziehungsministerium.)[18]

Ebenso erreichte er, dass in die Pflichtveranstaltungen des Jurastudiums rassenbiologische Veranstaltungen aufgenommen wurden und solche Fortbildungskurse für Richter angeboten wurden (die er auch selbst durchführte).1937 wurde er Mitglied des Reichsjustizprüfungsamtes.[19] Seine Vorstöße, die rassenbiologische Ausbildung der Hamburger Mediziner zu übernehmen und im Fachbereich Psychologie eine vakante Professur (des vertriebenen jüdischen Psychologen William Stern) als Rassenpsychologe zu besetzen, wurden von beiden Fakultäten allerdings abgewehrt.[20]

Grundlage der Scheidt'schen Rassenvorstellungen war seine angeblich wissenschaftlich begründete Vision einer zunehmend degenerierten deutsche Bevölkerung, deren fortschreitenden Niedergang er zu berechnen wusste. Demnach, so lautete seine Prognose, würde die deutsche Bevölkerung „um 2000“ aus 18% „hoch- und überdurchschnittlich Begabten“, 29% „mittelmäßig Begabten“ und 53% „schwach und mangelhaft Begabten“ bzw. „Schwachsinnigen“ bestehen. „Das“, so seine Erkenntnis 1933, „ist die Zukunft des deutschen Volkes, wenn nur noch zwei Generationen lang die generative Kraft der hochbegabten Familien so vernichtet, die Nachkommenschaft der Minderwertigen so aufgezüchtet wird, wie es bisher geschah.“ Genau so stand es dann auch in seinem 1934 erschienenen Buch „Die Träger der Kultur“ zu lesen, wo er allerdings die Rettung nahe sah: „Die Regierung des Dritten Reiches hat sich, vom Weitblick unseres genialen Führers Adolf Hitler geleitet, vor allem anderen die gewaltige Aufgabe gestellt, diesen verhängnisvollen Weg des Volkes aufzuhalten. Wenn einer, so wird Adolf Hitler die geistige Kraft und die politische Macht haben, dieser Aufgabe in der letzten Stunde möglicher Hilfe Herr zu werden.“[21]

Der Kampf gegen diese Entwicklung, also gegen die „Minderwertigen“, war Scheidts rassenbiologisches und -politisches Programm: Ein Drittel der Bevölkerung sei „entartet“, erklärte er vor Medizinern in einer „Vorlesungsserie (…) und empfahl die Einrichtung eines mit Personenkennziffern arbeitenden 'bevölkerungsbiologischen Katasters' zu ihrer Erfassung und Aussonderung“.[22] In der Praxis bedeutete das, dass Scheidt dem Hamburger Stadtphysikus, Obermedizinalrat Dr. Kurt Holm, 1934 einen Vorschlag für die „Einrichtung eines Registers für das Erbgesundheitsgericht“ unterbreitete, der später auch beim Aufbau des „Zentralen Gesundheitspaßarchivs“ Hamburgs - einem Instrument zwangsweiser Sterilisationen - dienlich war.[23]

Um Verfall, Degeneration und Untergang des Volkes Einhalt gebieten zu können, war die Beschaffung möglichst vieler Angaben über die Bevölkerung eine grundlegende Voraussetzung, daher Scheidts Drang zu immer mehr Daten, Fakten, Zahlen: „Im Lauf der Jahre hat er 250.000 Menschen anthropologisch vermessen, Familienstammbäume rekonstruiert, Fotoalben angelegt, Zettelkästen mit Notizen über ihre Lebensverhältnisse gefüllt und 400.000 Auszüge aus Kirchenmatrikeln angefertigt.“[24]

Das Problem bestand darin, dass die Umsetzung seiner Rassenbiologie folgerichtig auf rassenhygienische Maßnahmen gegen Teile der Bevölkerung (des „Volkskörpers“ bzw. der „Volksgemeinschaft“, wie es im NS-Jargon hieß) hinausliefen, die vornehmlich in den sozialen Unterschichten (zunächst der Großstadt Hamburg!) zu finden waren. Auf deren „generatives“ Leben einzuwirken (also es zu verhindern bzw. zu beenden) war für Scheidt wichtiger, d.h. vordringlicher, als der Kampf gegen Rassenmischung.

Diese Position bedeutete aber zugleich eine Frontstellung gegenüber dem NSDAP- Rassismus, wie ihn etwa NS-Ärzteführer Willy Holzmann, Walter Groß vom „Rassenpolitischen Amt der NSDAP“ oder letztlich auch der Chef des „Rasse- und Siedlungshauptamts“ der SS (bis 1938), Reichsbauernführer und Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Walther Darré vertraten. Sie setzten andere Prioritäten: Erste Aufgabe sei die Aussonderung und Beseitigung vor allem von nicht „deutschblütigen“ Menschen - „Zigeunern“, Slawen, Juden.[25](Der rassenkundliche Weg zum Holocaust war vorgezeichnet.)

In den sich entwickelnden Kontroversen zog Scheidt letztlich den Kürzeren. So wurden ihm die weiteren Mittel für sein groß angelegtes Projekt „Rassenkundliche Erhebung des deutschen Volkes“ 1934 verweigert.[26] Forschung in diesem Stil entsprach offenbar nicht mehr den Erfordernissen der Zeit. Scheidt hat sich 1939 darüber beklagt, dass „die spezielle rassenbiologische Forschung in Deutschland seit dem Sommer 1934 allenthalben ganz eingestellt und daß sie seitdem nicht wieder aufgenommen worden ist.“ Ergänzend gab er zu verstehen, dass sich im Archiv seines Instituts „ein in keinem anderen Institut Europas mehr vorhandenes, bei 10.000 Familien umfassendes und größtenteils noch nicht einmal ganz bearbeitetes Material vorfinden“ lasse.[27]

Obwohl Scheidt, so schon sein Professorentitel, auch als Vertreter einer „Kulturbiologie“ auftrat und zunächst ja tatsächlich Fühler in Richtung Volkskunde ausgestreckt hatte, wurde doch zunehmend klar, dass er sich als Naturwissenschaftler verstand, der sich selbst an der Philosophischen Fakultät fehl am Platze sah. Nach längeren inneruniversitären Auseinandersetzungen und langwierigen Abstimmungen mit dem Ministerium für Erziehung und Wissenschaft in Berlin wurde seine Professur schließlich 1941 an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der „Hansischen Universität“ angesiedelt – mit der Maßgabe, dass sein Lehrstuhl wie sein Institut nach seiner Emeritierung in die Medizinische Fakultät eingegliedert werden sollte, mit der Bezeichnung „Institut für Erb- und Rassenhygiene“.[28] Im Prinzip wurde dies, als Scheidts Universitätstätigkeit 1964 beendet war, auch so umgesetzt: Seine Stelle und sein Institut für „Anthropologie“, wie es nach 1945 wieder hieß, wurde zur Professur und zum Institut für „Humanbiologie“, allerdings an der Biologischen Fakultät, ohne dass der speziellen Vergangenheit, die Lehrstuhl und Institut mit sich brachten, damals besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde.[29]

Nach dem Wechsel in die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät gingen die Streitigkeiten um Scheidts Mitwirken bei den Medizinern weiter [30]. Er selbst hatte seit Ende seiner rassenbiologischen Bevölkerungserhebungen neue Schwerpunkte gesetzt, so 1936 mit zwei Titeln zur „Sprachoberfläche der Seele“, die sich einer naturwissenschaftlichen Betrachtung eher entziehen.[31] Ein Eklat war Scheidts eigenmächtige Verlagerung seines Instituts, d. h. der Bibliothek – vermutlich auch seines Archivs – nach Braunschweig, nachdem weite Teile Hamburgs im Sommer 1943 in der „Operation Gomorrha“ zerstört wurden. Trotz Aufforderung, das Material wieder nach Hamburg zu bringen, blieb es bis Kriegsende in Braunschweig.[32] Im Übrigen vertrat er in der Nachfolge seiner rassenpsychologischen Ansätze nach 1945 eine sogenannte „Inbildlehre“ (was er noch 1948 als „Lehrbuch der Anthropologie“ veröffentlichte, nannte er in neuer Auflage 1954 „Die menschliche Inbildlehre“), die später als „esoterisch“ bezeichnet wurde. Sie ließ ihn auch in Fachkreisen zum unverstandenen „Außenseiter“ werden.[33]

Dass er, trotz seiner oft betonten Naturwissenschaftlichkeit, bereits früher schon, als er noch als anerkannter Rassenbiologe galt, auch anderen Motivationen zugänglich war, wird durch seine literarische Produktion belegt. Unter dem Pseudonym Berchtold Gierer schrieb er nebenbei Romane („Die Geige“, 1938; „Geschlechter am See“, 1940; „Pallasch und Federkiel“, 1942; „Spiegel der Welt“ - darin: „Der Karfunkelberg“, „Der sterbende Wald“, „Der Regenbogen“ -, 1942; noch 1949 erschien „Im Troß der Reiter“), von denen zumindest einer, „Geschlechter am See“, zeitgemäß durchaus erfolgreich war: 1941 wurde er mit dem „Dichterpreis“ der Stadt Braunschweig („Wilhelm-Raabe-Preis“) ausgezeichnet. Nicht um anspruchsvolle Literatur, sondern um die Verbreitung „völkisch-propagandistischen Schrifttums“ ging es bei diesem Preis. Zusammen mit Scheidt war 1941 zweiter „Volkspreisträger“ der Lehrer und NS-Kulturfunktionär Karl Götz (1903-1989) (Mitglied der NSDAP 1933, der SS 1941) mit seinem Roman „Die große Heimkehr“.[34] Scheidts preisgekrönter Roman erzählt vom „Leben verschiedener Bauerngeschlechter gegen Ende des 14. Jahrhunderts am Bodensee“. „Am Ende des Romans steht der letzte kinderlose Enkel, dessen Hoffnung auf die noch ungeborenen Kinder kaum den Niedergang der eigenen Familie und des ganzen Bauernstandes überspielen kann.“ Ausgesprochen nationalsozialistische Inhalte fehlen, doch „belegt der Roman die völkische Position des Autors“[35], urteilt der Literaturwissenschaftler Frank Westenfelder.[36]

Es gibt verschiedene Ereignisse, die Scheidt, was sein Auftreten, seinen Umgang mit akademischen Kollegen, mit seinen Assistenten und Studenten betrifft, als widerspenstig, vielleicht starrköpfig, elitär, rechthaberisch, auch intrigant erscheinen lassen. Dies kann der vorliegenden Literatur entnommen werden, besagt aber nicht unbedingt etwas über seine wissenschaftliche, vor allem aber politische Haltung. Auch bezüglich letzterer gibt es mehrfach angeführtes sozusagen Anekdotisches, das – entgegen seiner durch Jahrzehnte belegten Zuarbeit, Kooperation und Nutznießung der Verhältnisse im Vorfeld und während der Herrschaft des Nationalsozialismus – auf eine vielleicht doch eigensinnige Antihaltung hindeuten soll, wie etwa die erwähnte Tatsache, dass er nie in die NSDAP eingetreten ist, dass seine Kinder nicht in der HJ waren, dass er sich über den „Führer“ „ironisch“ geäußert habe etc. Von Scheidt selbst gibt es dazu offenbar keine Darstellung.[37]

Erwähnt sei hier allerdings, dass Scheidt schon am Beginn seiner akademischen Karriere nicht nur akademischen Umgang pflegte. Damals trat er beispielsweise beim „Gildetag“ (15./16. August 1925) der von dem rassistischen Pastor Christian Boeck geführten „Fehrs-Gilde“ in Bad Segeberg auf. Dieser Verein gehörte zu den rührigsten Zirkeln der Niederdeutschen Bewegung, in Konkurrenz (bei teilweiser Zusammenarbeit) mit der Hamburger Vereinigung „Quickborn“. Bei den Fehrs-Niederdeutschen hielt man viel von dem prominenten Rassenkundler Hans F. K. Günther, von Rassen, Stämmen, Volkstum überhaupt. Scheidt referierte am 15. August über „Rassenkunde in Niederdeutschland“, was nicht allen Fehrs-Aktiven gefiel: Franz Frommans Bericht in den „Blättern der Fehrs-Gilde“ hielt fest, gegenüber den offenbar hohen Erwartungen an den „Herrn Privatdozenten Dr. Walter Scheidt aus Hamburg“, wie er angekündigt worden war, „mußten die kühlen, stark verneinenden Erörterungen abfallen und enttäuschen“. Scheidt hatte vermutlich auch dort seiner Geringschätzung der Rassenvorstellungen Günthers Ausdruck verliehen und demgegenüber seinen eigenen wissenschaftlichen Anspruch herausgestrichen. Pastor Boeck sah sich genötigt, die Unzufriedenheit zu besänftigen: „Wenn in diesem [Vortrag] auch die Kritik stark zu Worte kam, so fehlte doch keineswegs der positive Gehalt.“ Die „Fehrs-Gilde“ blieb übrigens Günthers Rassenkunde treu.[38]

Scheidt hatte sich zur gleichen Zeit, 1925, mit Hinrich Wriede, dem Schriftsteller der Niederdeutschen Bewegung in Finkenwerder/Hamburg, zusammengetan, der seine rassenbiologischen Berechnungen volkskundlich anreichern sollte. (Wriede war leitend in der „Quickborn“-Vereinigung aktiv.) Der Kontakt zwischen den „Niederdeutschen“ und Scheidt hielt sich bis in die NS-Zeit hinein: So hat der Schulleiter der Oberschule für Jungen in Eppendorf und Leiter des „Fachausschusses für Heimatliche Geschichte“ der „Vereinigung Niederdeutsches Hamburg“(VNH), die ab 1935 alle Hamburger Niederdeutsch-Aktivisten zusammenfassen und auf NS-Linie bringen sollte, über Absprachen mit Scheidt berichtet. Anlässlich der 2. VNH-Tagung 1937 in Bergedorf meldete er, Rudolf Schmidt, seinem Fachausschuss: „Sie haben im vorigen Jahr [1936] in der Schulausstellung bereits eine Reihe von familienkundlichen Arbeiten gesehen. Wir haben damals versprochen, die Arbeit sollte fortgesetzt werden. Das ist auch geschehen. Die Unterlagen sind schon vorhanden und ausgewertet von der Oberschule für Jungen in Eppendorf. (…) Das größere Hamburg soll auch durch diese zunächst bescheidenen Untersuchungen erfaßt werden. (…) Welch reiche Vielfältigkeit, welch Fülle von Beobachtungsmöglichkeiten, reichend bis zum Blick in den Gesamtaufbau des deutschen Volkskörpers! Schon ist die Verbindung zu Professor Scheidt von der Hansischen Universität einerseits, zum Institut für Landesplanung andererseits gesichert – und was als Arbeit einer einzelnen Schule und ihrer Elternschaft begann, das wird endigen in einer Gesamtschau des weit verästelten, aber zu gemeinsamem Einsatz für die neue Hansestadt Hamburg aufgerufenem Volkstums dieses Gemeinwesens.“[39]

Auch Scheidt war zu markigen Worten – Jahre vor 1933 – fähig: Beim „Akademischen Reichsgründungskommers“ am 20. Januar 1927 hielt der Privatdozent eine Rede, in der er das „Erbgut unserer Ahnen“ beschwor und die Kenntnis von „Rasse und Volkstum“ als „Weg zu den Quellen dessen, was deutsch ist“, bezeichnete. Als 1933 die „neuen Zeiten“ anbrachen, stand dann auch Scheidt auf der Liste der Unterzeichner des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“, und für das Reichsinnenministerium wirkte er als „Gutachter für Fragen der arischen Abstammung“.[40]

Zu NS-Zeiten ist Scheidts Verhältnis zu Partei und Staat uneinheitlich gesehen worden. 1936 urteilte der Rektor der Universität über ihn: Er sei zwar kein Parteigenosse, „er bejaht aber unbedingt den Nationalsozialismus als ein Forscher, der seit mehr als 10 Jahren für den Rassengedanken eingetreten ist.“ Die Gauleitung der NSDAP fand 1938, er „hänge zwar die Hakenkreuzfahne heraus“, aber sein Leben „stimme nicht mit seiner Lehre überein.“ 1941 hielt man ihn in NS-Sicht für „unzuverlässig“.[41]

Aus zeitlichem Abstand und mit Blick auf seine gesamte universitäre Karriere bis 1945 wird „der Rassenkundler Scheidt“, will es scheinen, nicht zu Unrecht zu denen gezählt, die als „aktive Nationalsozialisten oder Vertreter der staatlichen Politik (…) während der Kriegszeit“ eingestuft werden müssen.[42]

Nach Kriegsende und Ende der NS-Herrschaft ging Scheidts Weg ins akademische Abseits, wie erwähnt. Als er die Universität verließ, war er schnell vergessen. Man sprach jedenfalls nicht von ihm. Als durch studentische Aktionen die rassenpolitische Tradition der Hamburger Anthropologie oder, wie es inzwischen hieß, Humanbiologie in den Blick geriet, fiel auch kurz noch einmal der Name Scheidt.[43] Das war rund 30 Jahre, nachdem der Rassenbiologe Hamburg den Rücken gekehrt hatte. Er war in seine Heimat, ins Allgäu, zurückgekehrt und dort 1976 gestorben.

Text: Ralph Busch