Christian Boeck
(10. 03. 1875, Heiligenstedten - 21. 07.1964, Hamburg)
Pastor bis 1945 an der Lutherkirche Hamburg-Wellingsbüttel, Aktivist der Niederdeutschen Bewegung (u.a. „Fehrs-Gilde“, seit 1916)
wohnhaft bis 1964: Waldingstraße 39 (ehemals: Waldstraße), Hamburg-Wellingsbüttel
Christian-Boeck-Allee, Hamburg-Wellingsbüttel (seit 1992, vorher: Lindenallee)
„Was wir empfinden, wenn wir auf Dich, auf Dein Werk schauen: Habe Dank, Dank, Dank!“ [1]
I
Sein „gläubiges, gütiges und warmherziges Wirken (…) bleibt unvergessen“[2]; seine „in vielfacher Weise segensreiche Tätigkeit“[3] wird hervorgehoben; er gilt als der „geistige, weise und gütige Mensch“ schlechthin [4]. Kurzum, „gleich liebens- wie verehrungswürdig“[5], habe er sich „im In- und Ausland einen geschätzten Namen erworben“ [6].
Vereine und Universitäten überreichten ihm Preise und Auszeichnungen; Festschriften wurden ihm gewidmet. Das Bundesverdienstkreuz wurde ihm verliehen.[7] Endlich, fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod, erhielt eine kleine Straße in Hamburg seinen Namen.[8]
Schon sein Geburtsort schien auf eine besondere Beziehung zu den Mitmenschen zu deuten, was in Anbetracht der Tatsache, dass er ein protestantischer Pastor war, allerdings außergewöhnlich zu nennen wäre. Er sei, wurde bemerkt, „- nomen est omen – in Heiligenstedten geboren.“[9]
Christian Boeck, über den so geschrieben wurde, wurde am 10. März 1875 in besagtem schleswig-holsteinischen Heiligenstedten an der Stör, unweit Itzehoe, geboren. Nach der üblichen Schulzeit (Gymnasium in Rendsburg) absolvierte er – in Leipzig, später Marburg und Kiel – das Studium der evangelischen Theologie, wurde danach Vikar in Kappeln an der Schlei, dann in Kiel. Anschließend war er Hilfsgeistlicher in Bramfeld/Wellingsbüttel nahe Bergstedt. Damals waren das kleine Orte in Stormarn, vor den Toren Hamburgs. Von 1907 bis 1933 stand Boeck der Kirchengemeine Bramfeld vor, übernahm danach die Hilfsgeistlichenstelle des noch zu Bramfeld gehörenden Pfarrbezirks Wellingsbüttel.[10]
Seit 1937 verfügte Wellingsbüttel – nunmehr zu Hamburg gehörend („Groß-Hamburg-Gesetz“) – erstmals über eine eigene Kirche, die neu erbaute Lutherkirche, Mittelpunkt der (ab Juli 1938) selbstständigen Kirchengemeinde Wellingsbüttel. Sowohl am Kirchenbau wie an der Verselbstständigung der Gemeinde hatte Boeck offenbar nicht unwesentlichen Anteil.
Mit Bewunderung wird noch 1992 daran erinnert: „Nach Überwindung der üblichen Schwierigkeiten (…) konnte er die schlichte, in ihrer dörflichen Architektur der Umgebung so sensibel angepaßte Lutherkirche am 28. November 1937, dem ersten Adventssonntag des Jahres, übernehmen.“[11] Boeck selbst fand, der Kirchenbau zeichne sich durch „ein Gepräge [aus], das ganz von selbst ohne Künstelei etwas von niederdeutschem Bauwesen anklingen läßt“, und lobte den Eindruck eines „niedersächsischen Bauernhauses“. Sein abschließendes Urteil: „So kommt beides in diesem Bau zur Wirkung, der christliche Gedanke, dem er dienen soll, und das Heimatgefühl, das in ihm seinen Ausdruck findet.“ Diese neue Kirche war nicht nur der Umgebung, sondern auch dem Zeitgeist „sensibel angepasst“ (was freilich aus anderer Quelle zu erschließen ist): Der Bau war nach Norden ausgerichtet – dem Mythos von der vermuteten Urheimat der Germanen und Arier entsprechend – und ins Mauerwerk wurden (bis heute erhaltene und sichtbare) Runenzeichen und ein Hakenkreuz integriert. Die größte der drei im Dezember 1937 gelieferten Glocken, die es'-Glocke, zierte neben der Inschrift „Ein feste Burg ist unser Gott“ dann auch ein Hakenkreuz.[12]
Pastor Boeck hatte sich schon eine Weile mit diesem Zeitgeist auseinandergesetzt: Im August 1935 notierte er zu einer „Arbeitsgemeinschaft“, welche er in der Gemeinde durchführte: „Die Zeit, die hinter uns liegt, die man die liberalistische nennt, die Zeit, in der die Freiheit zur Willkür ausartete, hat so viele Meinungen und Gedanken hervorgebracht, daß auch in den Köpfen der Christen die verschiedensten Vorstellungen von dem, was Christentum ist, herrschen.“[13]
Den Treffen dieser „Arbeitsgemeinschaft“ sollten deshalb Bibeltexte, etwa der Römerbrief, zugrunde liegen. Boeck hielt im Oktober 1935 fest, wie das ablief: „Jede Aussprache wurde mit einer Einführung begonnen, die bald dieser, bald jener Teilnehmer übernahm. In einer Sitzung wurde ein Referat über Rosenbergs Schrift gegen die Dunkelmänner gehalten und dieses besprochen. Auch bei der Besprechung der einzelnen Römerbriefkapitel kamen bald die Fragen der Gegenwart zur Sprache. Es ist nicht möglich, alles aufzuzählen, was im einzelnen erörtert wurde, nur einiges sei erwähnt: Religion und Rasse, Jesus und Rasse, Paulus und Rasse, Erbsünde, Kulturentwicklung, Christentum und Deutschtum usw.“[14] Boeck konnte zweifellos nicht nur zum Bibeltext, sondern auch zu „Fragen der Gegenwart“, etwa dem Thema Rasse, viel beisteuern, wie im Folgenden zu zeigen ist.
Geplagt von zunehmender Schwerhörigkeit, übergab Boeck im Juli 1938 – er war mittlerweile 63 Jahre alt - seine Pastorenstelle an den Nachfolger Rudolf Scheuer. Dieser wurde jedoch im folgenden Jahr in den Krieg geschickt, was ihn „für Führer und Vaterland“ 1941 in Russland das Leben kostete. Also musste Boeck letztlich doch weiter kirchlichen Dienst als Pastor in Wellingsbüttel tun – bis Ende August 1945.[15]
Danach konnte er sich noch fast zwei Jahrzehnte lang dem widmen, was ihn schon immer beschäftigt hatte: Heimatkunde, Plattdeutschpflege, Niederdeutschtum.
II
Für Boeck trafen sich diese Interessen insbesondere in einem Punkt: in der Verehrung des schleswig-holsteinischen, in Itzehoe beheimateten Schriftstellers Johann Hinrich Fehrs (1838-1916). Nachdem er als Student in Kiel den Sohn Fehrs' kennengelernt hatte, hatte Boeck auch Zugang zum Haus des Vaters, der sich als Dichter herausstellte.[16] In niederdeutschen Kreisen wurde dieser, vor allem nach Erscheinen seines Romans „Maren“ (1907) - „En Dörpsromån ut de Tied von 1848/51“ -, alsdas große Talent, der „vierte Klassiker“[17] neuniederdeutscher Literatur gehandelt (in Nachfolge von Reuter, Groth und Brinckmann).
Als Fehrs 1916 starb, bildete sich sogleich ein Kreis niederdeutsch Heimatbewegter, die zu Ehren ihres literarischen Idols einen Verein gründeten: die „Fehrs-Gilde“ (in Hamburg bzw. Itzehoe). Federführend (und Vereinsvorsitzender bis 1921) war der in der norddeutschen, niederdeutsch-völkischen Szene umtriebige Journalist Jacob Bödewadt (1883-1946).[18] Christian Boeck, der 1908 als erster eine Monographie zu Fehrs herausbrachte,[19] war von Anfang an dabei, zeichnete für die „Blätter der Fehrs-Gilde“, das Vereinsorgan, und andere Veröffentlichungen der „Gilde“ verantwortlich und übernahm später (ab Ende 1938) den Vorsitz des Vereins - bis zu seinem Todesjahr 1964. Damit bestimmte der Pastor Jahrzehnte hindurch – vor 1933, bis 1945 und danach – in entscheidendem Maß die Aktivitäten dieser „Gilde“: ihr Programm, ihre Veröffentlichungen und Veranstaltungen, ihre politische Positionierung. („Seine Persönlichkeit drückte der Fehrs-Gilde so sehr den Stempel auf, daß es wohl schien, als sei er die Fehrs-Gilde“, verlautete nach seinem Tod aus dem Verein.) Im Netzwerk der konkurrierenden Niederdeutsch-Vereine nach 1918 (in Hamburg wie im norddeutschen Raum) spielte die „Fehrs-Gilde“ unter Boecks Einfluss und Leitung bald eine prononcierte Rolle. Insbesondere zu beachten war die Zusammenarbeit, aber auch Auseinandersetzung mit der Hamburger Vereinigung „Quickborn“.[20]
Die gesamte Niederdeutsche Bewegung pflegte eine kultur- und zivilisationskritische, gegen die großstädtische Moderne gerichtete Sicht; so auch die „Fehrs-Gilde“. Durch Christian Boeck wurden aber Jahre vor 1933 Ideologeme wie „Stamm“, „Volkstum“ und „Rasse“ als maßgeblich akzentuiert. Diese Position hat Boeck nicht nur in verschiedenen Arbeiten zu J.H. Fehrs entwickelt, sondern in grundsätzlichen Beiträgen zum „Wesen des Niederdeutschen“.
Insbesondere der von der „Fehrs-Gilde“ 1928 herausgebrachte Band „Was ist niederdeutsch?“[21] sollte zum einen die Bedeutung des Vereins belegen und ihm zum anderen in der Niederdeutschen Bewegung ein Deutungsmonopol verschaffen. Was noch Jahrzehnte später als großes, wissenschaftliches Werk bezeichnet wurde, war allerdings schon Gegenstand zeitgenössischer (im Grunde vernichtender) Kritik.[22] Eindeutig belegt dieses programmatische Kompendium aber die rassistische Ausrichtung der „Gilde“ seit jenen Jahren – und den großen Anteil, welchen Boeck daran hatte -, so dass der Anschluss des Vereins an die „neue Zeit“ der NS-Herrschaft ab 1933 kaum Wunder nehmen kann.
Noch 1933 schlossen „Fehrs-Gilde“ und „Quickborn“ ein taktisches Bündnis, gründeten einen „Ausschuß für Niederdeutsche Kultur“, um gegenüber den neuen Machthabern ihre Ergebenheit zu erklären, gleichzeitig aber ihre eigene Bedeutung, d.h. Eigenständigkeit zu betonen.[23] Die Ziele der nunmehr staatstragenden NS-Bewegung, schrieben sie an den „Herrn Reichskanzler“ am 11. April 1933, seien die, welche „Fehrs-Gilde“ und „Quickborn“ schon immer angestrebt hätten: Der „Ausschuss“ „sieht durch den nationalen Aufbruch das Ziel langjähriger Arbeit der niederdeutschen Bewegung erfüllt: deutsches Wesen und deutsche Art wieder in den Mittelpunkt unseres geistigen Lebens zu rücken.“[24] Für die „Gilde“ unterzeichneten der damalige Vorsitzende, („K[öni]gl[icher] Landrat a.D.“) Dr. Wachs, sowie Christian Boeck („Pastor“); für den „Quickborn“ der neue Vorsitzende, NSDAP-Parteigenosse Felix Schmidt, und Schriftleiter Dr. Alexander Strempel.
Dem Versuch der NS-Kulturpolitik, insbesondere des „Kampfbunds für deutsche Kultur“, in Hamburg personifiziert durch den unbeliebten, aber rabiaten NS-Aktiven Dr. Heinrich Haselmayer [25], die nationalsozialistisch reorganisierte Vereinigung „Quickborn“ als alleinigen niederdeutschen Aktionskreis einzusetzen, widersetzte sich die „Fehrs-Gilde“ und bestand auf ihrer organisatorischen Unabhängigkeit. Ähnlich die „Nedderdüütsh Sellshopp“ Thomas Westerichs [26] - wobei aber gleichzeitig allseits versichert wurde, mit Partei und Staat zusammenarbeiten zu wollen.[27]
Tatsächlich fand eine Auflösung der „Gilde“ in eine „gleichgeschaltete“ Organisation nicht statt, ebenso wenig wie im Fall des Hamburger „Quickborn“ oder etwa des kleinen „Alstervereins“, von dem noch zu sprechen ist.[28] Später wurde dies Boeck, was die „Fehrs-Gilde“ anging, als großes Verdienst angerechnet, „weil die politischen Machthaber auch eine Vereinigung wie die Fehrs-Gilde vollkommen unter ihre Botmäßigkeit zu bringen trachteten und sie in eine staatlich gelenkte Organisation überführen wollten. Das verhindert und die Selbständigkeit der Fehrs-Gilde in Gegensatz zu ähnlichen kulturellen Vereinigungen um ihrer Idee wegen erhalten zu haben, ist wohl in erster Linie das Werk des damaligen Vorsitzenden, des Landrats Dr. Wachs, aber auch, vor allem in den darauffolgenden Jahren, Dein Verdienst“, so Gustav Hoffmann im Namen der „Gilde“ 1960 an die Adresse Christian Boecks.[29]
Eine Bescheinigung politischer Widerständigkeit war das nicht. Vereine, die sich mit Heimat und „Volkstum“ befassten, mussten keineswegs zwangsläufig ihren Namen ändern oder aufgeben bzw. mussten sich nicht unbedingt organisatorisch in einen NS-Verband auflösen, zumal es keine einheitliche Position in der NS-Kulturpolitik gab, was die Form der (zwangsweisen) „Gleichschaltung“ betraf. Diese „Gleichschaltung“ warinhaltlich, d.h. thematisch, programmatisch (und entsprechend personell) gefordert. In dieser Hinsicht war auf Boeck zweifellos Verlass: Von den „Blättern der Fehrs-Gilde“, „in denen schon lange vor 1933 Aspekte der Rassenideologie Verbreitung fanden“, konnte jedenfalls festgestellt werden, dass sie „in Hinblick auf die politische Uminterpretation des Volkstums [in nationalsozialistischem Sinn] die extremste Position einnahmen.“[30]
Boeck hatte bereits 1925 einen „Wegweiser zur Bildung des literarischen Urteils“ verfasst [31], in dem er Juden nachsagte, sie hätten „zur Auflösung aller festen Formen auf sittlichem und religiösen Gebiet beigetragen“[32] und das „Judentum in der Literatur“ stelle „im weitesten Maße eine Gefahr für unser Volkstum“[33] dar. Dies war kein unbedachtes Versehen; zehn Jahre später schrieb Boeck immer noch: Juden seien „nicht zum Volkstum ihres Gastvolkes“ zu zählen - in seinem Aufsatz „Was ist Volkstum?“. Dort wurde „Volkstum“ deshalb auch nicht ausschließlich oder vor allem sprachlich definiert: „Denn dann gehören auch die Juden zum deutschen Volkstum. (…) An dem Beispiel der Juden sehen wir auch, worauf sich das gemeinsame Lebensgefühl in der Hauptsache gründet: es ist die Abstammung. Jedes Volk unterscheidet sich von den anderen durch die besondere Rassenzusammensetzung. Wir wissen, daß im Judentum bestimmte Rassen vorherrschen, die vorderasiatische und die orientalische. Anders ist die Zusammensetzung der Rassen in Deutschland, in England und in Frankreich. Lebensgefühl, das sich auf gemeinsame Abstammung gründet, ist also ein Kennzeichen eines Volkstums.“[34]
Für ihr programmatisches Kompendium „Was ist niederdeutsch?“ bemühte die „Fehrs-Gilde“ 1928 u.a. damals so klingende Namen wie Adolf Bartels, Hans F.K. Günther und Conrad Borchling [35], was für die einen Ausweis besten wissenschaftlichen Anspruchs, für andere Beleg eindeutig völkisch-rassistischer Niederdeutsch-Ideologie war. Boeck fasste die verschiedenen Beiträge für die „Fehrs-Gilde“ in einem „Schlußwort“ zusammen: „Wir suchten Antwort auf die Frage: Was ist niederdeutsch? (…) so finden wir (…) zwei Wegweiser (…), das Wesen eines Volkstums zu ergründen: es sind die Landschaft und die Rasse.“[36]
Für letztere interessierte sich Boeck vor allem: „In der Rasse finden wir die andere Grundlage, auf der sich jedes Volkstum und Stammestum erhebt. (…) Die Art und das Wesen eines Stammes wird zur einen Hälfte durch die Rassen geschaffen, die in ihm vorwiegend vertreten sind. Die Landschaft, die Umwelt allein macht es nicht.
Rasse tritt vor allem körperlich in die Erscheinung, an den Körpermerkmalen kann man erkennen, welcher Rasse ein Mensch angehört.“[37] Explizit verwies Boeck mehrfach auf H. F. K. Günther (den später so genannten „Rassegünther“, dank NS-Protektion schon 1930 mit einer Professur für „Sozialanthropologie“ an der Universität Jena versorgt) als Quelle seiner Erkenntnisse. Dementsprechend führte Boeck weiter aus:
„Aber Rasse bedeutet auch eine bestimmte seelische Gestalt, die einzelnen Rassen bieten verschiedene seelische Bilder. Die Tatsache ist uns gefühlsmäßig gegenwärtig. Man hat sie aber auch nachgewiesen.“[38] Gemeint waren mit „nachgewiesen“ Spekulationen wie die von Günther, denen Boeck bereitwillig folgte:
„Für das geistige Wesen des niederdeutschen Menschen in seiner besten Form sind in erster Linie die nordische und die fälische Rasse maßgeblich.“[39] Und zwar, so Boeck bzw. Günther, lief das auf Folgendes hinaus: „Die nordische Rasse ist schöpferisch begabt und liefert führende Menschen auf vielen Gebieten.“[40] Der „fälische“ Mensch dagegen: „Er zeigt mehr Gemüt und ist innerlicher. (…) Wucht bezeichnet leiblich und seelisch das Bild der fälischen Rasse, und etwas Urtümliches eignet ihr.“[41]
Agathe Lasch, nachdem sie gleich anfangs in ihrer Rezension des Bandes klargestellt hatte, dass zwischen einer „wissenschaftlichen Durchdringung“ und der „populären Form, die die Heimatvereine pflegen“, ein prinzipieller Unterschied bestehe, meinte zu Boecks Ausführungen ganz unpolemisch, aber eindeutig: „Der Verfasser geht offenbar von einem ziemlich fest umrissenen, eigenen Bilde aus. (…) Das Buch gibt wohl noch nicht das, was der Herausgeber plante und vielleicht auch zu geben glaubt (…).“ [42]
Boeck ließ sich durch solche Einwände von seiner Meinung nicht abbringen. Dies betraf auch seine fortwährende Beschäftigung mit Fehrs. War seine Monographie von 1908 schon dadurch gekennzeichnet, dass in ihr „dem Irrationalismus (…) nun endgültig Tür und Tor geöffnet“ wurde[43], so waren Jacob Bödewadt und Christian Boeck mit ihrer „Fehrs-Gilde“ ab 1916 „beide die treibenden Kräfte, die einer undifferenzierten Überhöhung des Fehrs-Bildes im Sinne eines Klassikermythos und einer stetig wachsenden Integration völkisch-konservativer Tendenzen in die Auseinandersetzung mit Fehrs den Weg [bereiteten]“.[44] 1929 war Boecks Darstellung seines verehrten Dichters ganz in Einklang mit seinen Rassenvorstellungen aus dem Vorjahr, als es ihm um die „nordische Rasse“ ging, wie gezeigt. „Wenn eine Möglichkeit besteht, nordischen Geist in unserm Volke zu pflegen und zu stärken, dann kann, wenn irgendeiner, Fehrs Dienst an diesem Werke tun. Nordischer Geist hat in seiner Dichtung Gestalt gewonnen und kann von hier aus in der unbewußten Weise, wie es Dichtung tut, auf alle Empfänglichen bildend wirken.“[45] Solche Sentenzen fanden in der Zeitschrift „Volk und Rasse“ („Vierteljahresschrift für deutsches Volkstum“), die der völkisch agitierende Verleger J. F. Lehmann [46] finanzierte, ihren angemessenen Platz.
Weiter sah Boeck seine Aufgabe (bzw. die der „Fehrs-Gilde“) auch darin, gegenwärtiges „Volkstum“ zu fördern, also aktuelle (möglichst plattdeutsche) Literatur in richtiger Deutung. Dies fand dann, wie vor 1933, auch unter NS-Vorzeichen statt. So gab er – zusammen mit Albrecht Janssen - 1935 den Band „Das unbekannte Niederdeutschland“ mit Texten zeitgenössischer „niederdeutscher“ Autoren heraus, gefolgt von „Niederdeutsche Balladen“ 1936.[47] In der Einleitung hieß es da: „Es ist allgemeine Meinung, daß die Ballade eine besonders nordische und daher auch niederdeutsche Form der Dichtung ist. Sie ist u.a. ein Nachklang alter Heldengesänge, wie sie einst in den nordischen Bereichen heimisch waren.“[48] Anschließend, wie gewohnt, die Wendung zu „Stamm“ und „Wesen“: „Niederdeutsche Balladen haben im allgemeinen etwas Schweres und Düsteres an sich. Darin kommt ein Zug unseres Stammeswesens zum Ausdruck, der stark ausgeprägt ist.“ So enthüllte sich ihnen „in all dem Streit, der Leidenschaft, dem Verrat und Mord [in den Balladen] der herrische, stürmische Wille, der alles daran setzt, die Welt zu zwingen. Auch das ist niederdeutsch.“[49]
Beide Bände waren zugleich auch Jahresgaben der „Fehrs-Gilde“, wie sie seit 1917/1918 an ihre Mitglieder verteilt wurden. Diese Publikationen erschienen unangefochten wie vor 1933 auch in der NS-Zeit bis zu deren unabweisbaren Ende. (Die Jahresgaben 1944/45 entfielen!) Die auf diese Weise von der „Fehrs-Gilde“ verbreiteten niederdeutschen Autoren waren, außer Fehrs natürlich, beispielsweise die NS-gefälligen Thomas Westerich und Albert Mähl, aber auch der nationalsozialistische Germanist Hans Teske, der sich über den „niederdeutschen Menschen“ äußerte.[50]
Als 1938 in Itzehoe ein „Fehrs-Gedenkstein“ eingeweiht wurde, ein großes Ereignis für die regionale nationalsozialistische Kulturpolitik, war Pastor Boeck nicht nur von der Familie Fehrs umringt (und Jakob Bödewadt war selbstverständlich auch mit von der Partie), sondern an seiner Seite stand auch Gauleiter Hinrich Lohse inmitten seiner uniformierten Parteigenossen.[51]
III
Im Kontrast zu derlei kontinuierlichem Wirken während der NS-Zeit steht Boecks spätere Erinnerung, in der die Niederdeutschen – er sprach nun vom entpersonalisierten „Plattdeutschen“ - unter den Verhältnissen zu leiden gehabt hätten: Nach Ende des 19. Jahrhunderts „lebte das Plattdeutsche ein wenig abseits, und die Kritik verlor das Interesse an ihm“, bemerkte Boeck 1961. „Später kam noch das Mißtrauen der Nationalsozialisten hinzu, die in den Bemühungen um das Plattdeutsche partikularistische Tendenzen politischer Art vermuteten.“[52]
Zu dieser Zeit, Anfang der 1960er-Jahre, wurde nicht so gern und jedenfalls ungenau von jenen vergangenen Tagen gesprochen; man fasste sich, wenn überhaupt, kurz und möglichst vage und inhaltsleer. Auch Hermann Goecke hielt sich daran: Als er 1962, damals Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster, im Namen der Stiftung F.V.S. den Joost van den Vondel-Preis verlieh, war er wohl auf äußere Formen bedacht [53], blieb in seiner Rede inhaltlich aber unbestimmt. Er sprach in seiner Laudatio auf den Preisträger, Christian Boeck, von dessen Verdiensten um die plattdeutsche Sprache und um Niederdeutsches überhaupt: „Als Herausgeber bedeutender Sammelwerke wissenschaftlicher Arbeiten über niederdeutsche Probleme und Anthologien plattdeutscher Dichtungen, die ich im einzelnen heute nicht aufzählen kann, hat sich Boeck im In- und Ausland einen geschätzten Namen erworben.“[54] Hätte er sie aufgezählt, hätte er möglicherweise die dargestellten Bücher „Was ist niederdeutsch?“ oder auch „Das unbekannte Niederdeutschland“ und die „Niederdeutschen Balladen“ - mit Boecks Vorstellungen von Stamm, Rasse etc. - nicht verschweigen können.
So jedoch konnte Boeck als „selbstloser Förderer niederdeutscher Sprache und Dichtung“[55] geehrt werden, wobei ebenfalls offen gelassen wurde, welche Geschichte sich mit der Stiftung F.V.S. und ihren Preisen verband. Boeck selbst wußte, wem er dankte: „Ik dank de Stiftung F.V.S. un den hochgeehrde Mann, de se insett hatt; sien Doon un sien Will is, överall, in Natur un in de Geisteswelt, de Kräft to hegen un to plegen, ut de dat Leben sien Bestand hett.“[56]) Der „hochgeehrte Mann“, Alfred C. Toepfer, hatte, als „die Kräfte, aus denen das Leben seinen Bestand hat“, noch „Blut und Boden“ genannt wurden, einen Rembrandt-Preis finanziert, verliehen von der nationalsozialistisch ausgerichteten Hamburger Universität. Nun aber, der Rembrandt-Preis war diskreditiert und wurde nicht mehr vergeben, gab es einen Joost van den Vondel-Preis, verliehen an der Universität Münster, „als Auszeichnung überragender kultureller Leistungen im gesamten flämischen, niederländischen und niederdeutschen Sprachgebiet.“ [57]
Christian Boeck bedankte sich artig, sprach von seinen Bemühungen und von denen der „Fehrs-Gilde“: Jetzt wie früher gehe es um „die Pflege des Fehrsschen Erbgutes“, dann aber auch „um das Niederdeutsche selbst und um die plattdeutsche Sprache“[58] Freilich sei nicht die Sprache allein von Belang: „Weit mehr noch hat das Plattdeutsche für jeden einzelnen Niederdeutschen charakterbildende Bedeutung. (…) Darum ist es seine Aufgabe, wie die jeder Mundart, Hüterin und Pflegerin der seelischen, der innerlichen, gefühlsbetonten Kräfte zu sein.“[59] Boeck sah aber keineswegs nur auf Innerliches: „Immer bleibt das Plattdeutsche in seiner Weltstellung bestehen, die darin begründet liegt, daß es im Angelpunkt der nordischen und der nahe verwandten westlichen Sprachen, des Niederländischen und des Flämischen, die Mitte hält. Diese Stellung hat schon immer Beziehungen gegeben und das Leben befruchtet.“[60] Genauer musste Boeck die alten all-niederdeutschen Vorstellungen nicht erläutern; anzunehmen ist, dass auch nach dem „Zusammenbruch von 1945“[61] dem Publikum, vor dem er sprach, noch vertraut war, wovon er sprach.
Außer für die „Fehrs-Gilde“ wendete Boeck seine Zeit und Energie nach 1945 auch für den kleinen Heimatverein seiner Wohngegend auf, für den „Alsterverein“, dessen Interessen auch Wellingsbüttel einschlossen. Boeck wurde Mitglied, hielt Vorträge, schrieb im Jahrbuch des Vereins. Auch hier wurde er geschätzt: Er wurde zum Ehrenmitglied erklärt.[62] Am 23. August 1992 waren „Fehrs-Gilde“ und „Alsterverein“, zusammen mit lokaler Prominenz, in Wellingsbüttel versammelt: Die ehemalige „Lindenallee“ erhielt einen neuen Namen: „Christian-Boeck-Allee“. Man war sich einig: Der „tätige Kulturförderer“ Christian Boeck, „unser Christian Boeck“[63], galt den Anwesenden als „Vorbild“, an das die Hoffnung geknüpft wurde, es möge „auch nachfolgenden Generationen Anstöße geben“.[64]
Anstöße welcher Art, wurde nicht gesagt.
Text: Ralph Busch