Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Dulsberg


Stadtteil Dulsberg in der NS-Zeit
Das Wohngebiet Dulsberg war seit seiner Erbauung in den 1920er Jahren immer ein Arbeiterstadtteil. Es ist kein ‚gewachsenes’ Quartier, sondern auf dem Reißbrett geplant. Der im Juli 1943 fast vollständig zerstörte Stadtteil wurde nach dem Krieg in seiner alten Struktur und Gestaltung wieder aufgebaut und stellt noch immer ein vielbesuchtes Beispiel modernen Wohnungsbaus und moderner Stadtentwicklung dar.
Ein eigenständiger Stadtteil wurde Dulsberg erst 1951. Bis ins 20. Jahrhundert gehörte das Gebiet als östliche Feldmark zum Dorf Barmbek und später zum Stadtteil Barmbek, begrenzt im Norden von Barmbek-Nord und Bramfeld, im Osten und Süden von Wandsbek. (…)
Während der Zeit der Weimarer Republik galt der Stadtteil aufgrund der Zusammensetzung der Einwohner und hoher Wahlergebnisse für Sozialdemokraten und Kommunisten als das „rote“ Dulsberg. Am 6. November 1932, den letzten Reichstagswahlen vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, gewannen auf dem Dulsberg SPD und KPD deutlich mehr Stimmen als im Hamburger und im Reichsdurchschnitt, die NSDAP deutlich weniger. Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933, also nach der Machtübernahme der NSDAP, zeigte sich ein anderes Bild: Zwar hatte die SPD gegenüber den November-Wahlen auf dem Dulsberg nur wenig eingebüßt, ihre absolute Stimmenzahl war sogar noch gewachsen. Die Kommunisten verloren jedoch gut ein Fünftel ihrer Stimmen. Die Nationalsozialisten steigerten ihren Anteil um zwei Fünftel auf fast 35 Prozent. Dennoch hatten die beiden Arbeiterparteien auf dem Dulsberg zusammengenommen immer noch die absolute Mehrheit der Stimmen.

    Deutsches Reich    Hamburg    Dulsberg
    November    März    November    März    November    März    
    1932    1933    1932    1933    1932    1933
SPD    20,4%    18,3%    28,6%    26,9%    35,2%    34,1%
KPD    16,9%    12,3%    21,9%    17,6%    27,1%    20,4%
NSDAP    33,1%    43,9%    27,0%    38,8%    24,5%    34,9%

Reichstagswahlergebnisse 6.11.1932/5.3.1933 im Vergleich
Quelle: Statistische Mitteilungen über den hamburgischen Staat, Nr. 30 und Nr. 31, Hamburg 1932 und 1933 sowie eigene Berechnungen
Die starke Verankerung der Arbeiterparteien in Barmbek insgesamt, insbesondere aber auf dem Dulsberg, war der NSDAP schon vor der Machtübernahme Anlass für vielfältige Provokationen und Auseinandersetzungen, insbesondere durch martialische Aufmärsche durch Barmbek und Dulsberg, ähnlich denen in Altona (Altonaer Blutsonntag). Darüber sind bisher nur wenige Einzelheiten bekannt. Von einem Marsch aus dem Jahr 1932 berichtete ein Zeitzeuge: „Der Zug ging über die Nordschleswiger Straße weg Richtung Ahrensburger Straße [heute Krausestraße]. Auf den Flachdächern war angeblich Polizei, unten die SA. Es war ein Schußwechsel hin und her. […] Welche Jahreszeit war, kann ich nicht sagen. Aber das eine weiß ich, daß man bei uns noch in Fenster geschossen hatte.“ Ingrid Reichert, seinerzeit Anwohnerin der Schlettstadter Straße, berichtete: „Die hatten große Scheinwerfer und haben mit den Scheinwerfern in die Fenster geleuchtet. Und darum mußten wir Kinder uns verstecken.“ Der vorherige Zeitzeuge ergänzte: „Und dann wurde geschossen …“ Von einem Fackelzug am 1. März 1933 – wenige Tage vor den letzten Reichstagswahlen − existieren Augenzeugenberichte: „Vor 1932 hätte kein SA-Zug es gewagt, durch Barmbek zu marschieren. Und dann hat unser Schönfelder mit Polizeipräsident Danner diese Demonstration durch ‚Barmbeker Land’ erlaubt. … Erst oben am Dulsberg, … da ging die Schießerei los!“ erzählte Zeitzeuge Walter Todt, 1934 emigriert. Am 2. März 1933 begann der Artikel über den Fackelzug im nationalsozialistischen „Hamburger Tageblatt“: „Der eherne Marschtritt der braunen Kolonnen, die sich gestern stundenlang durch das rote Barmbek wälzten, hat das rote Untermenschentum fast um den Verstand gebracht.“
Die Zeitzeugen berichten, dass die Gefahren des heraufziehenden Nationalsozialismus auf dem Dulsberg schon vor der Machtübernahme am 30. Januar 1933 deutlich gesehen wurden. Dennoch: „Der 30. Januar 1933 [der Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler] war ein Schock für die ganze Umgebung hier auf dem Dulsberg.“
Viele der von der Geschichtsgruppe Dulsberg Befragten erzählten von Widerstandshandlungen von Kommunisten, Sozialdemokraten, unabhängigen sozialistischen Gruppen und Einzelpersonen in der Anfangszeit der NS-Herrschaft. Über den Widerstand der KPD auf dem Dulsberg ist nur wenig Konkretes bekannt. Zu den kommunistischen Widerständlern, die dort gewohnt haben, gehörten die frühere Bürgerschaftsabgeordnete Magda Langhans und das Mitglied der zehnköpfigen illegalen KP-Bezirksleitung Wasserkante Arthur Ogrowski.
Anders als die KPD und kleinere sozialistische Gruppen wie der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK), die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und die Kommunistische Partei/Opposition (KPO) waren die Sozialdemokraten kaum auf die illegale Arbeit vorbereitet. Nach dem Verbot der SPD organisierten sie sich auf dem Dulsberg und in Barmbek vor allem in Gruppen, die überwiegend aus Reichsbanner- und Schufo-Leuten bestanden (Schufo = Schutzformation, militante Eliteeinheiten des Reichsbanners zum Schutze der von Nationalsozialisten bedrohten sozialdemokratischen Veranstaltungen). Anfangs zählten diese Gruppen 10 bis 15 Mitglieder, nach den ersten Verhaftungen wurde die Arbeit in Kleingruppen mit drei oder fünf Leuten organisiert. Nur zwei bis vier Personen kannten sich. Allein der Gruppenleiter hatte Kontakt zur nächsthöheren Ebene. Aufgrund dieser Organisationsform blieben einige Schufos der Gestapo längere Zeit verborgen. Hierzu zählte auch die Schufo 11 (Barmbek-Süd, östlich der Hamburger Straße, Dehnhaide), zu deren Organisationsgebiet auch der Dulsberg gehörte.
In der Reichsbannerkameradschaft 11 bildeten die Dulsberger die Abteilung B. Leiter des illegalen Widerstandes der Sozialdemokraten am Dulsberg war der Gewerkschafter Peter Haß, der diese Funktion auch nach seiner Emigration 1934/35 zusammen mit seinem bereits vorher emigrierten Bruder Otto Haß wahrzunehmen suchte. Dabei gab es innerhalb der sozialdemokratischen Widerstandsgruppen am Dulsberg unterschiedliche Meinungen, sowohl was die Führung des Kampfes als auch was die Qualität des eingeschmuggelten Materials anging.
Mit fortschreitender Festigung des nationalsozialistischen Systems wurde die Widerstandsarbeit immer risikoreicher. Bei einer Verhaftungswelle im Oktober 1934 wurden aus den Frank’­schen Laubenganghäusern (u. a. Ferdinand Roschmann, Henry Bokamp) und den Straßen im Bereich Elsässer Straße und Nordschleswiger Straße/Alter Teichweg insgesamt etwa 15 Sozialdemokraten (darunter Stamer, Kretschmer und Hans Huth) wegen Verbreitung illegaler Druckschriften und anderer Vorwürfe verhaftet und zum Teil zu langjährigen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt. Als eine der letzten Gruppen des Widerstandes gegen die Nationalsozialisten wurde Ende 1936/Anfang 1937 die Widerstandsgruppe der Schufo 11 aufgedeckt. Wie ihr Leiter Otto Grot berichtete, wurden 40 Mitglieder der Schufo 11 in vier Prozessen im Januar 1938 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und Polizeiaufsicht verurteilt. Später trafen sich einige dieser Schufo-Leute im „Bewährungsbataillon 999“ wieder. August Bode, der einen Erlebnisbericht zur Dulsberger SPD ab 1922 verfasst hat, gab die Zahl der verurteilten Sozialdemokraten aus dem Widerstand auf dem Dulsberg mit etwa zwanzig an.
Es gelang den Nationalsozialisten erst nach und nach, auf dem Dulsberg Fuß zu fassen. In der seit 1935 erschienenen NSDAP-Parteizeitung „Gaunachrichten“ wurde die Parteiorganisation detailliert vorgestellt. Die für den Dulsberg zuständigen Personen wohnten zu einem nicht geringen Teil in anderen, oft entfernten Stadtteilen. Die Ortsgruppe Dulsberg-West hatte ihre Geschäftsstelle in der Probsteier Straße 27. Ortsgruppenleiter war Franz Hirschler. Die Adresse der Ortsgruppe Dulsberg-Ost lautete Straßburger Straße 77, Ortsgruppenleiter war ein B. Brecht. Die Hitler-Jugend veranstaltete Turn- und Sportabende in den Schulen Ahrensburger Straße, Amalie-Dietrich-Weg und Graudenzerweg. Der Bund Deutscher Mädel (BDM) hatte eine Adresse in der Eupener Straße in einem BDM-Heim. Die Leiterin, Hertha Krüger, wohnte aber nicht auf dem Dulsberg, sondern in der Oberaltenallee. Es gab auf dem Dulsberg (Alter Teichweg 9, Haus K) einen Ableger der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung e. V. und des Deutschen Jungvolks in der HJ (Dulsberg-Süd 13), dessen Leiter in Poppenbüttel wohnte. Es ließen sich weitere Einrichtungen der NSDAP und ihrer Folgeorganisationen aufzählen.
Auch unter den Jugendlichen hielt sich Widerstandsgeist, wie Zeitzeugen berichteten: „In unserer Olivaer Straße waren nur zwei von zwanzig Jungen [der Jahrgangsgruppe 1919–21] in der Hitler-Jugend.“ Die Hitler-Jugend wurde statt HJ mit HI abgekürzt, Eingeweihte übersetzten die Abkürzung mit „Hitler-Idioten“. Hitler hieß „Dittmer“, die Formel „Hein Dittmer“ statt „Heil Hitler“ ließ sich vortrefflich norddeutsch grummeln, wenn der Grußpflicht nicht zu entkommen war.
Noch 1935 war die Begeisterung für die Hitler-Jugend und ihr nahestehende Organisationen in weiten Teilen des Dulsbergs ziemlich gering. Aus einer statistischen Übersicht im Auftrage des Gauleiters Karl Kaufmann ergibt sich, dass von den 435 Schülern der Schule Ahrensburger Straße (heute Krausestraße) nur 70 (oder 16 Prozent) der Hitler-Jugend angehörten. Unter 234 untersuchten Hamburger Schulen nahm die Schule Ahrensburger Straße Rang 216 ein, befand sich also unter den Schulen mit geringer HJ-Quote. In der Schule Alter Teich­weg 119, die damals gerade erst gegründet worden war, konnte die HJ von 35 Schülern 7 (20 Prozent) zu den ihren zählen. An der heute nicht mehr zum Dulsberg gehörenden Schule Amalie-Dietrich-Weg waren 27 Prozent der Schüler Angehörige der Hitler-Jugend.
Dennoch schritten wie überall Anpassung und Opportunismus voran. In einigen Straßen verwandelten sich von einem Tag auf den anderen die drei Pfeile des Reichsbanners am Revers mancher „Volksgenossen“ in Hakenkreuze. Überall hatten meist SA-Leute, Haus- und Blockwarte das Sagen. Die SA nutzte das System der Haus- und Blockwarte, um durch Mundpropaganda Druck gegen Missliebige zu machen. Auch gegen Geschäftsleute. Als einen der ersten trafen die Boykottmaßnahmen den Fischhändler Paul Naschke, der in der Straßburger Straße 15 ein bis dahin florierendes Geschäft betrieben und aus seiner Sympathie für die Sozialdemokraten nie einen Hehl gemacht hatte. Er musste seinen Laden verkaufen. Am Alten Teichweg veranstalteten die NSDAP-Amtswalter regelmäßig Werbemärsche und forderten die Grußpflicht ein. „Mit einem Mal waren auch überall diese Fahnenhalter an den Fenstern.“
Der Anteil jüdischer Bürgerinnen und Bürger auf dem Dulsberg war vergleichsweise gering. Doch die Biographien auf den folgenden Seiten zeigen, dass auch auf dem Dulsberg Jüdinnen und Juden der Verfolgung und den Deportationen nicht entgingen. Als der Druck auf Andersdenkende, Andersgläubige und „nichtarische“ Menschen immer mehr wuchs, setzte auf dem Dulsberg der Exodus ein. Von vier auf dem Dulsberg praktizierenden jüdischen Ärztinnen und Ärzten emigrierten drei, Benno Hurwitz nahm sich 1938 in der Haft das Leben.
(…)
Zwischen 1939 und 1945 sind nach Schätzungen des Historikers Mark Spoerer insgesamt 13,5 Millionen Frauen und Männer (zivile Arbeitskräfte, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene) zu Arbeiten in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft gezwungen worden. In Hamburg waren während der Kriegsjahre insgesamt rund 500.000 Menschen als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in etwa 1.000 Betrieben aller Wirtschaftszweige eingesetzt: Männer, Frauen und Kinder. Untergebracht waren sie in annähernd 1.300 Lagern, die über das gesamte Stadtgebiet verteilt waren. Viele der Arbeitskräfte aus Polen und der Sowjetunion waren noch minderjährig, als sie nach Hamburg verschleppt wurden. Auch Kinder, die zusammen mit ihren Eltern nach Hamburg kamen, mussten z. T. leichtere Arbeiten im Lager verrichten, in einigen Betrieben wurden Kinder ab zehn Jahren zur Arbeit herangezogen. Auf dem Dulsberg sind drei Lager bekannt, in denen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gefangen gehalten wurden: Am Alten Teichweg 68 bestand ein Lager der Firmen Tischfabrik Kobrow (C.), Hammonia Metallwarenfabrik Friedrich Rost und Tretorn Gummi- und Asbestwerke AG vom No­vember 1942 bis April 1943 mit zwei Baracken, das für 300 sowjetische Arbeiterinnen geplant war. Im April 1944 betrieben die Tretorn Gummi- und Asbestwerke AG am Alten Teichweg 13–27 ein weiteres Lager für 60 sowjetische Zwangsarbeiterinnen. Bei der Firma Walkhoff, Fischindustrie, am Alten Teichweg 55/57 wurden in einem so genannten Ostarbeiterlager mindestens 51 Personen (wahrscheinlich Frauen) gefangen gehalten und zur Arbeit gezwungen. (…)
Text von Ingo Wille, entnommen dem Buch von Ulrike Spaar und Björn Eggert: Stolpersteine in Hamburg. Biographische Spurensuche. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung und dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Hamburg 2011.