Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Werner Fuss Dr. Werner Fuss

(3. September 1885 Gießen – 7. August 1950 Hamburg)
Lehrer
Adresse: Im Winkel 3 (1933)
Wirkungsstätte: Wilhelm-Gymnasium, Moorweide (heute Klosterstieg) / Johanneum, Maria-Louisen-Straße 114


Nach seinem Studium und der Promotion im Jahr 1910 wurde Fuss Lehramtsreferendar in Hessen. Als Student war er der schlagenden Deutschen Burschenschaft beigetreten. 1911 kam Fuss nach Hamburg und wurde als Oberlehrer an das Wilhelm-Gymnasium versetzt. Am 1. Mai 1933 trat er in die NSDAP ein und wurde im Juli zum stellvertretenden Schulleiter ernannt. Ab 1934 unterstützte Fuss aktiv die SA, u.a. als Beauftragter für Presse und Propaganda des Sturmbannes Hansa. Im Jahr 1934 wurde Fuss ans Johanneum versetzt. Dort schikanierte und denunzierte er systemkritische und jüdische Schüler, u.a. Egon und Ralph Giordano. Letzt genannter beschrieb seinen Lehrer Fuss als „Speckrolle“ in dem teilweise autobiografischen Roman „Die Bertinis“. Fuss trat 1935 in den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) ein und war ein häufiger, im Sinne des Nationalsozialismus agierender Redner bei Schulveranstaltungen und bei NS-Organisationen, u.a. übernahm er auch Schulungen innerhalb der SA. 1943 wurde er zum Truppführer und kurz vor Ende des Krieges noch zum SA-Sturmführer befördert und erhielt fast gleichzeitig auch die Ernennung zum Oberstudienrat.

Nach dem Ende des Krieges wurde Fuss 1945 entlassen und für einige Monate im Internierungslager in Neuengamme festgehalten. Im Rahmen der Entnazifizierung bemühte sich Fuss darum, seine Entlassung aus dem Schuldienst in eine Pensionierung mit vollen Bezügen umzuwandeln. 1948 wurden ihm die Pensionsbezüge eines Studienrats zugesprochen. Darüber hinaus wurde er in die Kategorie IV – Mitläufer eingestuft. Er sei zwar Nationalsozialist gewesen, aber kein Aktivist, hieß das Urteil des Entnazifizierungsausschusses.

Text: Katharina Tenti

 

Ralph Giordanos Albtraum- die „Speckrolle“

Werner Fuss (mitunter auch „Fuß“ geschrieben) war jener Lehrer, der in Ralph Giordanos autobiographischem Roman „Die Bertinis“ der Romanfigur „die Speckrolle“ zugrunde liegt, der Lateinlehrer am Johanneum, der den halbjüdischen Schüler Roman Bertini zur Verzweiflung bringt, die 1938 in einen Selbstmordversuch mündet. Welche reale Person und welche Geschichte standen hinter der Romanfigur „Speckrolle“?

Ralph Giordano scheiterte zweimal hintereinander an seinem Lehrer Dr. Werner Fuss, an dessen Diskriminierung und Benotung, so dass er ohne Abitur vom Johanneum abgehen musste. Später zählte er die „Speckrolle" ebenso wie Schulleiter Werner Puttfarken (im Roman: „Pottferk") zu den schlimmsten Nazis:

„Werner Puttfarken war so, wie ich ihn in den ‚Bertinis' schildere – ein strammer PG, genannt unter den Schülern ‚Tendenzbrocken‘, was seine Hinneigung zur Partei und zum Nationalsozialismus charakterisieren sollte. Unvergessen sein Aufmarsch vor versammelter Schülerschaft auf dem Innenhof am Montagmorgen, das Hissen der Flagge durch den Turnlehrer ganz oben, und dann ‚Deutschland, Deutschland über alles…‘ und ‚Die Fahne hoch…‘. Beliebt war er jedenfalls nicht.

Wann immer ich Werner Puttfarken über den Weg lief, gab es von seiner Seite irgendwelche gehässigen Bemerkungen, nicht direkt antisemitisch, aber immer entwürdigend. Natürlich wußte er genau, wie die ‚Speckrolle‘, Dr. Werner Fuß, mich behandelte, bis zu meinem Selbstmordversuch im November 1938.  Möglich, daß es schlimmere Nazis als ihn gegeben hat, z.B. die ‚Speckrolle‘ – aber Werner Puttfarken war schlimm genug.“ (1)

Nach 1945, im Entnazifizierungsverfahren, versuchte Werner Fuss Leumundszeugen zu finden, die ihn entlasteten. Er bat unter anderen den Lehrerkollegen am Johanneum, Willi Thede, um eine Stellungnahme. Thede, der in den Entnazifizierungsausschüssen für die höheren Schulen saß, schrieb über Werner Fuss am 10.Juli 1946: „Ich lernte Dr. Fuss nach seiner Versetzung an das Johanneum 1934 näher kennen. Er betonte seine nationalsozialistische und militärische Einstellung in einer so aufdringlichen Art und Weise, dass die Kollegen (darunter viele Parteigenossen) von seinen politischen Phrasen teils belustigt, teils angewidert waren. Er suchte jede Gelegenheit zur Propaganda mit den Redensarten, die man ihm in einem sogenannten politischen Seminar beigebracht hatte. Während die Kollegen sich gegen seine Art der Nazipropaganda wehren konnten, mussten die Schüler widerstandslos die Qual solcher Beeinflussung erdulden.

Der Unterzeichnete hat oft die Klagen der Schüler anhören müssen. Dr. Fuss lehrte die Unfehlbarkeit des Führers und hieß die Scheußlichkeiten des Systems als politische Notwendigkeit gut. Er propagierte die Welteroberungspläne und den damit verbundenen Militarismus. Er lehrte den Rassenhass. Da er selbst eingebildet und überheblich ist, fiel die Lehre von der germanischen Herrenrasse bei ihm auf besonders fruchtbaren Boden. Schüler jüdischer Abstammung wurden schlecht behandelt, z.B. die Brüder Giordano.

Es entspricht nicht der Tatsache, wenn Dr. Fuss behauptet, er habe aus politischen Gründen am Johanneum Schwierigkeiten gehabt. Im Gegenteil: obgleich er pädagogisch untragbar war, wurde er wegen seiner politischen Zuverlässigkeit nicht weiter versetzt.

Zusammenfassend muss gesagt werden: Dr. Fuss galt bei Kollegen und Schülern als der aktivste, geradezu fanatische Anhänger Hitlers.

Mir ist aber nicht bekannt, dass er einen politisch Anders-Denkenden angezeigt hat, obgleich zu solchen Anzeigen fast täglich Gelegenheit war.“  (2)

Werner Fuss wurde am 3.9.1885 in Gießen geboren, ging dort zur Schule und bestand am 19.2.1904 am Gymnasium Gießen die Reifeprüfung.

Er studierte neun Semester klassische Philologie und Germanistik, legte im Juli 1908 das Examen für das höhere Lehramt ab und promovierte am 3.Juli 1910 zum Dr. phil. Nach seiner Zeit als Lehramtsreferendar in Hessen bis Ostern 1910 wurde er Lehrer am Wilhelm-Gymnasium und am 1.4.1911 zum Oberlehrer  befördert. (3)

Werner Fuss unterrichtete am Wilhelm-Gymnasium bis 1934, machte zwischenzeitlich eine Sportlehrerprüfung und war lange Protektor des Gymnasial-Rudervereins „Hamburg“. 

Ideale, die ihn dabei leiteten, hatte er in der Festschrift des Wilhelm-Gymnasiums 1931 so beschrieben:

„Die ruhige körperliche Ertüchtigung in Licht und staubfreier Luft, die erzieherische Wirkung des Ruderns als Mannschaftssport, der die Jugend zur Unterordnung unter den Gemeinschaftswillen, zum Verantwortungsbewußtsein, zur Pünktlichkeit und Dienstbereitschaft erzieht, die wertvollen erzieherischen Kräfte, die in der Betreuung des Materials, in der Anleitung zur Handfertigkeit mit dem Zwecke der Selbsthilfe bei Materialschaden liegen, die Entwicklung von Mut und Ausdauer, Stärkung von Natur- und Heimatgefühl auf den Wanderfahrten – all das fällt zusammen mit den erzieherischen Zielen der Schule.  Behutsam beraten und betreut von ihrem Protektor, durch ältere schon erfahrenere Schüler geleitet, reifen die jüngeren Mitglieder allmählich zu höheren Aufgaben heran, bis sie dann das Vertrauen ihrer Kameraden zu einer führenden, verantwortungsvollen Stellung beruft. Gerade die Liebe zur Kleinarbeit ist neben der Entwicklung von Führereigenschaften für die Jungen ein wertvolles Vermächtnis fürs Leben.“  (4)

Auf der Liste der Landesunterrichtsbehörde vom 10.7.1933, auf der der Schulsenator des NSDAP-geführten neuen Hamburger Senates, Karl Witt, die neuen Schulleiter und Stellvertreter der höheren Staatsschulen präsentierte, war Dr. Werner Fuß zum stellvertretenden Schulleiter des Wilhelm-Gymnasiums bestellt worden. Passend dazu war er am 1.5.1933 in die NSDAP eingetreten.

Fuss gehörte der Deutschen Burschenschaft an, mit Zeichen praktizierter schlagender Verbindung im Gesicht. Er war seit 1936 Mitglied des NS-Altherrenbunds, ab 1935 Mitglied des NSLB und seit dem 1.4.1934 aktiv in der SA. Dort wurde er am 9.11.1943 Truppführer, am 20.4.1945 sogar Sturmführer, immerhin die neunte Hierarchiestufe in der SA. (5)  

Sein Bekenntnis zum Nationalsozialismus qualifizierte ihn dann also nach 23-jähriger Tätigkeit am Wilhelm-Gymnasium für die Berufung zum stellvertretenden Schulleiter.

Zu Beginn des neuen Schuljahres 1933/34 hielt Werner Fuss die Begrüßungsrede und stellte den neuen Schulleiter Bernhard Lundius vor. Fuss übernahmdie Aufgabe, die Schulgemeinde, das Kollegium und die Schüler auf die neue Zeit vorzubereiten, ja einzuschwören. Er tat dies mit folgenden Worten:
„Wer das Glück gehabt hat, in den Ferien durch Deutschland zu wandern und zu reisen, dem ward immer wieder das erhebende Erlebnis zu Teil, überall hochgestimmte Menschen zu sehen. Es ist, als sei ein böser Alp von dem Deutschen genommen. Der deutsche Mann und die deutsche Frau tragen ihr Haupt wieder höher und stolzer, seit wir durch unseren großen Führer wieder ehrlich vor uns selber geworden sind. Das deutsche Volk ist in vollem Aufbruch begriffen, nicht zu einem neuen Krieg, sondern zu einem auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit begründeten Frieden, zu Arbeit und Brot.“

Fuß richtete sich direkt an die versammelte Schülerschaft:

„Wo hast nun Du, deutscher Schüler, Deine Kraft einzusetzen? Es ist von unserem Führer Adolf Hitler in einer seiner letzten Reden das Wort gefallen, die Revolution sei abgeschlossen. Damit ist  – so hat der Reichsminister Dr. Frick dieses Wort ausgelegt  –  die siegreiche deutsche Revolution in das Stadium der Evolution, d.h. normaler gesetzmäßiger Aufbauarbeit getreten. Gewiß, die innere revolutionäre Begeisterung und Ergriffenheit, die seelische Bereitschaft und Hingabe für das neue nationalsozialistische Deutschland soll wach erhalten bleiben, aber fortan darf die sachliche Leistung nicht zurückstehen. Nur das Leistungsprinzip, ernster, entsagender Arbeitswille zum Wohle unseres ganzen Volkes kann uns aus der Niederung emporführen. Pünktlichkeit, Ruhe und Ordnung, treue Pflichterfüllung, Fleiß vor allem im Kleinen und Kleinsten muß nun auch in unser Schulleben zurückkehren.“ 

Und weiter appellierte Fuß: „Der Dienst in Eueren Bünden und Wehrformationen soll Euch nicht verkümmert werden, er ist zur Ergänzung Euerer Erziehung neben der Schule notwendig.“

Und: „Man muß auch dem deutschen Schüler an seiner inneren und äußeren Haltung gegenüber den ihm von seiner Schule gestellten Aufgaben ansehen können, daß eine neue Zeit angebrochen ist!  Aus Eueren Reihen vor allem sollen die künftigen Führer und Hüter des neuen deutschen Schicksals hervorgehen Beweist also, daß Ihr die Zeichen der Zeit erkannt habt und wendet Euch ab von Lauheit und Gleichgültigkeit! Tut eure Arbeit gläubig, wie sie Euch von Eueren Lehrern gewiesen wird, gläubig, daß es zu Eurem Besten ist! Dazu fordere ich Euch im Namen Eurer Lehrer auf.“ (6)

Schon ein halbes Jahr später geriet das Wilhelm-Gymnasium in Turbulenzen. Am 30.1.1934, am ersten Jahrestag der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, beauftragte der neue Schulleiter Bernhard Lundius den glühendsten Nationalsozialisten im Lehrerkollegium, Hans Rösch, damit, vor dem Kollegium und der Schülerschaft die Rede auf dieser Feier zu halten. Und Rösch stimmte die Schulgemeinde nicht behutsam und zusammenführend auf die neue Zeit ein, sondern nutzte das Rednerpult, um mit den Zögerlichen, den bisherigen NS-Gegnern, denjenigen, die vor Hitlers Machtübernahme anders organisiert und orientiert waren, abzurechnen. 

Hans Rösch gehörte zu einer kleinen Gruppe von nationalsozialistischen Aktivisten, die schon länger „zur Bewegung gehörten“, die sich als „alte Kämpfer“ empfanden, eine kleine Gruppe innerhalb des NSLB bildeten und im Weiteren eine vehemente Auseinandersetzung mit den neuen Führern des NSLB und der Schulverwaltung suchten.

Rösch, der in diesem Buch auch portraitiert wird (7), nutzte die Bühne des Wilhelm-Gymnasiums zu einer ersten massiven Konfrontation vor der gesamten Schülerschaft und dem Lehrerkollegium.

Vom Rednerpult rechnete er bei dieser Feier mit jeglichem „liberalistischem Glauben“ ab. Er denunzierte alle Kollegen, die vor 1933 den Nationalsozialisten skeptisch oder ablehnend gegenüber gestanden hatten. „Wir älteren wissen es noch ganz genau wie heute, wie man überall im Reich, also auch im Lehrerzimmer die Köpfe zusammensteckte und den wenigen unentwegten Anhängern Adolf Hitlers teils mit Schadenfreude, teils mit Mitleid, teils mit gütig warnendem Finger mitteilte, das Adolf Hitler offenbar nicht der kommende Mann sei, da er ja den Vizekanzlerposten abgelehnt habe. Das war eine solche Stunde der Prüfung. Die Worte klingen uns wenigen von damals noch in den Ohren und sie sind ja auch euch teilweise bekannt, dadurch daß sie in den Klassen gefallen sind. ,Euer armer Hitler wird es nun doch wohl nicht machen', ,Hitler ist nicht der Mann, ich hab es ja immer gesagt, da müssen ganz andere Leute kommen, die ihm zeigen, wie’s gemacht wird.‘ “

Und Rösch richtete sich direkt an das versammelte Kollegium: „Ein Teil kann den Arm noch nicht oder schon wieder nicht mehr, ein Teil nur widerwillig erheben zum deutschen Gruß, und ein dritter tut es mit Eifer, weil es nützlich ist.“

Spätestens hier machte sich Unruhe in weiten Teilen des Kollegiums bemerkbar. Die Schüler reagierten vielfach mit deutlicher Zustimmung, mit Amüsement darüber, dass sich einer ihrer Lehrer so deutlich außerhalb der Rolle bewegte.

Die Schulleitung war konsterniert. Bernhard Lundius, gerade ein halbes Jahr im Amt, wahrte die Form und griff nicht ein. Werner Fuss, selbst Nationalsozialist, aber hier in erster Linie Teil der Obrigkeit des Wilhelm- Gymnasiums, war fassungslos, dass sein langjähriger Kollege Hans Rösch die Lehrerschaft und deren Führung dermaßen brüskierte und sich mit den Schülern gegen sie verbündete.

„Und jetzt zu euch, liebe Schüler!  Ihr seid noch nicht in das Hin und Her, das Für und Wider parlamentarischen Wesens verstrickt gewesen. Eure jungen Herzen sind den herrlichen Gedanken unseres Führers rückhaltlos geöffnet. Und früher als sonst soll in euer Spiel der Ernst der Verantwortung treten. Teilweise gegen die Eltern. Sicher aber gegen die Schule hattet ihr längst den Weg zur Bewegung gefunden.“  

Rösch identifizierte sich mit der Hitler-Jugend und wies daraufhin, wo der gemeinsame Gegner stand: „Die deutschnationale Reaktion versäumte es nicht, uns Schwierigkeiten zu machen. Wir konnten uns auch gegen sie und die Behörde durchsetzen. So hat damals die Schule alles getan, um den Anschluß an die Bewegung gründlich zu verpassen. Sie hätte auch dann noch Vieles wieder gutmachen können. Aber es war über ihr wie ein schweres Geschick: Gerade sie, deren Aufgabe es doch gewesen wäre, sie hat deutsche Jugend in Braunhemd immer noch nicht begriffen. Sie wird euch auch nicht begreifen, bis der überwiegende Teil der Lehrer aus euren Reihen hervorgegangen ist. Das kann Jahre dauern. Unserm Führer, unserm Volk, unserem Vaterland, dem nationalsozialistischen dritten Reich…Sieg Heil!“ (8)

Nach dieser Rede gab es im Kollegium einen Sturm der Entrüstung. Insbesondere Werner Fuss gehörte zu den Empörten. Mit anderen Kollegen protestierte er per Unterschriftliste gegen Rösch und seine Rede. Auch Schulleiter Lundius war aufgebracht.  Am nächsten Tag, am 31.1.1934, fand in der Schule eine Lehrerversammlung statt, in der die meisten Lehrer sich darüber aufregten, dass ein Großteil des Kollegiums vor der HJ und der gesamten Schülerschaft bloßgestellt worden ist und Angriffe gegen Schulleitung und Behörde gestartet wurden. Werner Fuss empörte sich, dass „die Würde des gestrigen Tages in dieser Weise herabgesetzt worden sei“.  (9)

An anderer Stelle sprach Fuss von „mindestens einer ganz groben pädagogischen Entgleisung“.  (10)

Werner Fuss zeigte sich auch deswegen besonders erregt, weil es einerseits seinem Verständnis von Loyalität mit der schulischen Führungsebene und dem Kollegium widersprach, wenn sich ein Lehrer vor der Schülerschaft derart abwertend und provokativ äußerte.  Andererseits stand auch er im Kreuzfeuer der Kritik des Nationalsozialisten Rösch, der sich, obwohl auch er erst 1933 in die NSDAP eingetreten war, zu den „alten Kämpfern“ zählte und Leute wie Fuss, der vorher beim „Stahlhelm“ organisiert war, als zu wenig entschieden und „gleichgültig“ empfand.

Im Rahmen der Auseinandersetzung um seine Rede konkretisierte Hans Rösch seine Argumentation und fokussierte seine Angriffe auf die Person Werner Fuss:

„Wahre Disziplin wird in geradezu leichtfertiger Weise dadurch untergraben, daß man statt der nationalsozialistischen Lehrer Feinde der Bewegung oder Gleichgültige zu Leitern bestellt. Dies war in den Augen der Lehrer und Schüler am Wilhelm-Gymnasium geschehen. Schon bei der Bekanntgabe der Ernennung des stellvertretenden Leiters Dr. Fuß verhehlten die Schüler nur schlecht Unwillen und Enttäuschung.“ (11)

Ein Schüler hatte entsprechende Kritik an die Schulverwaltung gerichtet:
„Wahre Disziplin wird untergraben, wenn dieser Fall wie folgt behandelt wird: Der Schreiber des Briefes, der Unterprimaner Ralf Rösch, wurde zum Senator gerufen. Der Senator begründete die Eignung von Fuß damit, daß F. seine Schüler stets gut zum Abitur geführt habe. Diese Antwort erweckt bei den nationalsozialistischen Schülern den Eindruck, als ob es nur auf Einpumpen von Wissen für die Eignung als Führer und Lehrer ankomme. Der Schüler aber kennt Adolf Hitler, Mein Kampf: S. 452 ff. Er weiß also, daß charakterliche Qualitäten die Vorbedingung sind.“ (12)  

Zu den Besonderheiten dieser Auseinandersetzung gehörte, dass es sich bei dem Unterprimaner und HJ-Aktivisten Ralf Rösch um den erstgeborenen Sohn des Lehrers Hans Rösch am selben Gymnasium handelt.

Es zeigte sich zweierlei: Auch unter den Nationalsozialisten exisierten in den Jahren nach 1933 politische Lager und graduelle bzw. gravierende Unterschiede. Selbst ein Werner Fuss musste es sich 1934, zu einem Zeitpunkt, als er schon Parteimitglied und Aktivist der SA war, gefallen lassen, als „Konjunkturritter“ und Opportunist, also als kein „wahrer Nationalsozialist“  bezeichnet zu werden, wobei Hans Rösch innerhalb der Bewegung zu den fanatischen Dogmatikern gehörte. Und es erklärt vielleicht auch, warum Werner Fuss im Weiteren in seinem Auftreten keine Zweifel aufkommen lassen wollte, seinerseits unzweideutig ein überzeugter Nationalsozialist zu sein.

Es waren aber offenbar nicht nur HJ-Aktivisten, die Kritik am Lehrer Werner Fuß äußerten. Der spätere Landesgerichtsdirektor Günther Scheefe erinnerte sich an seine Lehrer Hans Rösch und Werner Fuß und beschrieb den Unterricht von Werner Fuss am Wilhelm Gymnasium 1925 folgendermaßen: „Dr. Fuß, von seinen Kollegen leicht spöttisch ‚der schöne Werner‘ genannt, erschien mir mit seinem breiten Schmiß, seiner näselnden Stimme und seiner überheblich herablassenden Attitüde recht eigentlich als das extreme Gegenteil von Dr. Rösch. Wenig älter als dieser, gab er einen ausgesprochenen Paukunterricht, ‚erledigte‘ in einer Unterrichtsstunde 250 Homer-Verse und mehr, indem er je 50 auf mehrere Schüler verteilte, die sie dann entweder teilweise übersetzten oder auch nur inhaltlich wiedergeben mußten und war in allem auf solche äußeren ‚Erfolge‘ aus. Nirgends gab es Vertiefung, Besinnung, Auskosten von Schönheiten. Mich übersah er von Anfang an mit verletzender Gleichgültigkeit. Richtige oder gar gute Leistungen bemerkte er ‚versehentlich‘ nicht. Es war überdeutlich, daß er mich nicht gelten lassen wollte. Die Klasse, nicht nur der schwächere Teil, duckte sich vor ihm, unfroh, mißmutig. Ich habe nie ein Lob über ihn vernommen." (13)

Neben den antisemitischen Ausfällen des Werner Fuss zeigen zwei andere Dokumente aus der Zeit seiner Arbeit am Johanneum, welch überzeugter Nationalsozialist er war.

Am 23.7.1942 schrieb er an die Schulverwaltung: „Ich bitte, den Schüler Wolfgang Stabe, Sohn des Dr. Stabe aus Marxen (Kr. Harb) in mein Haus aufnehmen zu dürfen (ab Sept. 42). Begründung des Vaters liegt bei. Wolfgang Stabe ist inzwischen im Johanneum (Kl. V) angemeldet worden. Der Junge ist bei seiner und  seines Elternhauses nationalsozialistischer Einstellung (der Vater ist altes PG+ SA- Standartenarzt) ein wertvoller Zuwachs unserer Schülerschaft. Heil Hitler!   Fuss“. (14)  

Die Schulverwaltung in Person von OSR Züge befürwortete dies.

Der andere Fall wirft ein besonderes Licht auf den nationalsozialistischen Schulalltag und die Charakterlosigkeit der beiden handelnden Parteigenossen:

Am 16.1.1941 schrieb das NSDAP-Mitglied am Johanneum, Dr. Erich Witter, mit dem Schulstempel des Johanneums an die Schulverwaltung:

„Der Primaner Sporleder, 7a, hat in einer der letzten Deutschstunden, gelegentlich einer Würdigung des Dichters Johst, den Schlageter offen als ‚Geschichtsfälschung‘ bezeichnet. Ich erblicke hierin eine Verhöhnung nationalsozialistischer Weltanschauung.  Witter“ (15)   

Dieses Schreiben und seine Aktivität in diesem Fall wurde Witter in seinem Entnazifizierungsverfahren sechs Jahre später, 1947, zur Last gelegt.  

Im Verfahren wurde festgestellt: „Weiter hat Dr. Witter sich hinsichtlich der von Studienrat Thede geführten Unterprima dahin geäußert, daß er - Witter - in einer derartig antinazistisch ausgerichteten Klasse nicht unterrichten könne.“

Nun, sechs Jahre später, war eben dieser Studienrat Thede Mitglied des beratenden Entnazifizierungsausschusses höherer Schulen.

Jetzt äußerte sich Witter folgendermaßen zu diesem Vorfall:

„Leider hat ein ungünstiges Geschick mich ohne mein Zutun in weitere Affären verstrickt, in denen ich aus einer Zwangslage heraus zur Stellungnahme gezwungen war.

1940 war ich ans Johanneum gekommen und gab u.a. Deutsch in der Unterprima. Der Primaner Sporleder störte sehr häufig den Unterricht durch Lachen und Zwischenrufe, alle Ermahnungen blieben erfolglos. Auftragsgemäß hatte ich Johst’ Schlageter mit der Klasse zu lesen.

Zum Schluß sprach ich abschließend über den Opfertod als metaphysische Angelegenheit. Da springt plötzlich Sporleder auf und ruft in die Klasse hinein: ‚Das ist ja alles Kitsch! Der Dichter wird nur deswegen gelobt, weil er Präsident der Reichsschrifttumskammer ist und SS- General!‘ Es entstand ein ungeheurer Tumult und ich konnte mich bis zum nahen Klingelzeichen nicht wieder durchsetzen. Nach Schluß der Stunde stürzten die Schüler in die Nebenklassen und die Kunde von dem Vorfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Nun hatte ich den Primanern wiederholt gesagt, wenn sie abweichende Ansichten hätten, dürften sie sie ohne Scheu vortragen, aber selbstverständlich in einer anständigen Form und unter Wahrung der Disziplin. Eine Vorschrift besagte nun klar und deutlich, daß jeder ernste Verstoß gegen die Disziplin mit einer Meldung an den Direktor zu beantworten sei, das war dienstliche Vorschrift. Ich mußte also zum Direktor gehen. Dies war Dr. Puttfarken, ein milder und menschenfreundlicher Mann noch aus der Zeit der Republik, den ich sehr schätzte. (16) Ich wollte ihn bitten, dem Sporleder klarzumachen, dass es so nicht weiter gehe und er sich in Acht nehmen müsse.

Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, trat mir der Kollege Dr. Fuß, ein höherer SA-Führer, entgegen. Er hatte von dem Vorfall gehört und fragte, was ich tun werde. Als er hörte, ich wollte zum Direktor, sagte er: Puttfarken greift nicht durch, er ist zu schlapp. Sie müssen zur Partei gehen und die Sache anzeigen. Hier handelt es sich um eine direkte Verhöhnung des Nationalsozialismus.

Ich geriet in einen furchtbaren Schrecken. Ich bekam Herzkrämpfe und musste am Nachmittag zum Arzt. Ich war ein unzuverlässiger PG, wenn ich die Ratschläge eines SA-Führers missachtete. Trotzdem stand ich am nächsten Vormittag im Vorzimmer des Direktors, um mit ihm im oben angeführten Sinnen zu sprechen. Da will es wieder das Missgeschick, dass Puttfarken nicht anwesend ist. ‚Schreiben Sie es auf und machen sie es dringlich‘, sagt die Sekretärin, ‚dann lässt er sie holen, wenn er da ist.‘

Ich schreibe den Vorfall kurz nieder. Dabei kommt mir die Redensart des SA-Führers in den Sinn und ich schreibe sie zum Schluß mit hin, um sie als Rückendeckung zu benutzen, falls er mich, wie es auch geschah, wieder zur Rede stellen würde. Der Direktor ließ mich auch bald holen und wir sind uns auch schnell einig, dem Jungen eine nachdrückliche Warnung zu geben. Sie erwies sich als wirksam, die Störungen hielten auf. Fuß konnte ich abblitzen lassen, indem ich ihm den Wind aus den Segeln nahm, ‚ich habe in der Meldung ihre eigenen Worte gebraucht‘.“

Ungünstig für Witter, dass seine Meldung mitten in seinem Entlassungsverfahren, 1946, gefunden wurde. Witter war schon an seinem vorigen Arbeitsplatz, an der Lichtwarkschule, als übler Denunziant unrühmlich aufgefallen. (17)

Dieses Manöver hat Witter nur zum Teil genützt. Dank des Beteiligten Willi Thede im Entnazifizierungsausschuss wurde Witter in den Ruhestand versetzt (allerdings mit 75% seines Gehaltes!). In der Begründung hieß es: „Nach Überzeugung des Ausschusses genügt die von ihm unter 16.1.1941 gegen den Primaner Sporleder erstattete Anzeige, um ihn als Lehrer im Hamburger Schuldienst als untragbar erscheinen zu lassen.“ (18)

Die Krönung dieser Affäre war allerdings, dass sich Werner Fuss 1949, nach dem eigenem Entnazifizierungsverfahren gerade in den Ruhestand versetzt, in Unkenntnis der bisherigen Vorgänge, in gönnerhaftem Ton zum Leumundszeugen für Erich Witter machte. Er schrieb am 31.5.1949:

„Herr Dr. Erich Witter suchte mich heute in Sachen seiner Entnazifizierung auf. Als Ergebnis unsrer Unterredung erkläre ich folgendes: Ich erinnere mich in Umrissen zu dem Fall Sporleder (Unterprima 1940). Hr. Dr. Witter, den ich seit langem als freundlichen und milden Lehrer kannte, berichtete mir von dem Vorfall und wir besprachen ihn eingehend. Wir kamen beide übereinstimmend - wie ich auch sonst derartige Fälle beurteilte - zu der Ansicht, den Fall als jugendliche Entgleisung anzusehen, andererseits, damit Herr Dr. Witter sich vor Weiterungen schützte, den Fall Herrn Dir. Puttfarken, der auch als milder Beurteiler bekannt war, entsprechend den Dienstvorschriften als Disziplinarfall zu melden.“ (19)  

Ohne Scham verteilte verteilte man hier Persilscheine.

Werner Fuss wurde also nach dem Scheitern seiner stellvertretenden Schulleiterkarriere schon 1934 an ein anderes humanistisches Gymnasium, die Gelehrtenschule des Johanneums versetzt. Dort wirkte er in der beschriebenen Weise. Auch außerhalb der Schule war er insbesondere in der SA, im Sturmbann Hansa aktiv. Dort hielt er Reden über Tagesfragen, wie er auch bei Schulfeiern als überzeugter nationalsozialistischer Redner auftrat. Am 7.8.1944 wandte sich der Führer der Gruppe Hansa und Hamburger Reichstagsabgeordnete der NSDAP, Herbert Fust, an den damaligen Leiter der Hamburger Schulverwaltung, Ernst Schrewe, mit einem eindeutigen Anliegen:

„Der SA-Truppenführer Studienrat Dr. Fuss, der dem Lehrkörper der Gelehrtenschule des Johanneums angehört, ist für eine SA-dienstliche Beförderung vorgesehen und zum Sturmführer geeignet.

Ich würde eine Beförderung seitens der Schulverwaltung ebenfalls befürworten.

Truppführer Fuss gehört zur Zeit dem Stab des Sturmbannes z.b.V. ‚Hansa‘ an als Sachbearbeiter für Presse und Propaganda. Gleichzeitig ist F. Sachbearbeiter im Stab der Gruppe Hansa für das Referat ‚Feldherrnhalle‘. Vor dieser Verwendung führte Fuss eine Schar im Sturm 2=/Ha.

Truppführer Fuss hat sich bisher durch besondere Dienstfreudigkeit und stete Einsatzbereitschaft ausgezeichnet. Hervorzuheben ist sein Einsatz anlässlich der Terrorangriffe im vergangenen Jahr, wofür er mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet wurde.

Die geistigen Fähigkeiten von Fuss sowie seine einwandfreie weltanschauliche Festigkeit machen es möglich, ihn zu Sonderaufgaben einzusetzen. Dabei zeigt er immer erneut wieder gute Führereigenschaften, die sich auch im besonderen in der Erziehung der Männer auswirken. Seine Gesamthaltung als SA-Mann ist untadelhaft.

Ausserdienstlich ist mir Nachteiliges über Fuss nicht bekannt worden.“ (20)

Selten findet man so eindeutige Belege, wie Absprachen, Impulse und Anregungen zwischen Naziorganisationen und Verwaltung funktionierten.

Oberschulrat Walter Behne antwortete Fust, dass „eine Beförderung des Studienrats Dr. Fuss zum Oberstudienrat bereits durch die Schulverwaltung vorgesehen“ sei. „Zum nächstmöglichen Termin wird diese Beförderung vorgenommen.“ (21)

Das wurde dem SA-Führer am 1.10.1944 mitgeteilt. Am 12.12.1944 beförderte die Behörde Fuss dann zum Oberstudienrat.

Werner Fuß wurde in seiner pädagogischen Arbeit am Johanneum von den Schülern nicht besser bewertet als am Wilhelm Gymnasium. Ralph Giordano bezeichnete ihn als „Nazi, Rassist und Militarist in einer Person". (22) Uwe Reimer, der mit vielen ehemaligen Schülern gesprochen hat, stellte fest: „Giordanos Sicht auf Fuss ist kein Einzelfall, wenn auch wohl kein anderer Schüler so unter ihm zu leiden hatte wie er. Andere ehemalige Schüler berichten besonders von Fuss‘ Propagandatätigkeit: ‚Er war ein 150 % iger Nazi und bemühte sich, uns laufend mit NS-Parolen zu indoktrinieren. Als stumm drohend, wie in dem Film ‚Die Bertinis‘ dargestellt, haben wer ihn nicht gekannt. Er versuchte vielmehr, auf allerlei Weise mit uns in Kontakt zu kommen, stieß aber, auch aufgrund seines pädagogischen Ungeschicks auf allgemeine Ablehnung." (23)

Bedeutsam war sicherlich auch, dass Werner Fuß von 1933 bis1934, also unmittelbar nach dem Wechsel vom Wilhelm-Gymnasium zum Johanneum, der Anleiter von Hans Wegner war. Wegner wurde im April 1946 Schulleiter des Johanneums (24) und 1951 Oberschulrat für die höheren Schulen in der Schulbehörde, nachdem Heinrich Schröder überraschend gestorben war. Insofern hatte Wegner eine konkrete Erinnerung daran, wie Werner Fuß am Johanneum in der NS- Zeit aufgetreten war. In seiner Beurteilung über den Referendar Hans Wegner hatte Fuss über dessen Lateinunterricht viel Positives festzustellen aber kritisch angemerkt: „Wünschenswert wäre es auch, dass sich W. körperlich mehr ausbildet. Er ist zwar körperlich leistungsfähig, wie ich auf Klassenausflügen feststellen konnte, er ist eifriger Wanderer und Radfahrer, aber es fehlt ihm etwas an straffer, energischer Haltung. Ein Volkssportkursus oder besser noch eine SA-Ausbildung wäre ihm deshalb auch sehr dienlich." (25)        

Am 12.9.1945 teilte der neue Schulsenator Heinrich Landahl mit, dass Werner Fuss auf Anordnung der britischen Militärregierung aus dem Schuldienst entlassen werde. Fuss wurde in das Internierungslager Neuengamme überführt.

Am 26.1.1946 teilte er dem neuen Oberschulrat für die höheren Schulen, Heinrich Schröder, mit, er sei am 21.12.1945, „nach lebensgefährlicher Erkrankung aus dem Internierungslager entlassen“. Von der Entlassung aus dem Schuldienst habe er erst dann erfahren. Er wolle seine „durch 35 Jahre lang treu und fleißig geleistete(n) Dienste“ anführen und  dadurch „wohlerworbene Rechte geltend machen“. Er wies darauf hin, dass in seinem Alter (über 60) keine Aussicht bestehe, „sich auf einen anderen Beruf einzustellen“. (26)

Am 1.7.1946 unternahm Fuss den Versuch, den ehemaligen Vorsitzenden des Elternrates des Wilhelm-Gymnasiums und neuen Bürgermeister, Rudolf Petersen, anzuschreiben.

Schon in leichter Verwirrung schrieb Fuss an „Eure Magnifizenz“:

„Ich wurde im Herbst als stellvertretender Leiter des Wilhelmgymnasiums aus politischen Gründen abgesetzt und dem Johanneum überwiesen, wo ich ebenfalls als politisch Unzuverlässiger Schwierigkeiten hatte. Ich habe mich deshalb zunächst innerlich gesträubt, Nationalsozialist zu werden. Wenn ich mich dann doch in der SA betätigt habe so erstens deshalb, weil ich sah, daß ich dem einfachen SA-Mann geistig etwas zu bieten hatte und ihn auf meine Weise beeinflussen konnte und zweitens in der ideellen Absicht, zu meinem kleinen Teil dazu beizutragen, aus der Revolution eine Evolution zu machen.“

„Ihr sehr ergebener“ Dr. Werner Fuss bat darum, „da Sie, sehr geehrter Herr Bürgermeister, meine Leistungen der Altphilologie kennen (Lehrer Ihrer Neffen!), mir wenigstens zu der mir rechtlich zustehenden Pension zu verhelfen.“ (27)

Wenig später, nach Rücksprache mit dem ehemaligen Kollegen Willi Thede, klang Fuss ungleich kleinlauter. In einem Schreiben an OSR Schröder bat er am 14.8.1946 um Pensionierung. Er begründete dies mit seinem Alter (kurz vor seinem 61. Geburtstag), seinem Gesundheitszustand, nach „lebensgefährlicher Erkrankung, die mich monatelang am Rande des Todes gehalten hat“ und einer „seelische(n) Erschütterung, die mein Gleichgewicht völlig zerstörte“. (28)

Ergänzend ließ Fuss noch Entlastungszeugen zu Wort kommen lassen - in erster Linie seine Hausangestellte, die er „geistig förderte“ und einen Gartennachbarn.

In zwei Dokumenten äußerte sich Fuss noch einmal zu seinem politischen Werdegang. So schrieb er u.a. am 10.3.1947 an den Berufungsausschuss zur Ausschaltung von Nationalsozialisten:

„Warum ich eingetreten bin: Ich glaubte, in dem Programm der NSDAP eine gute und brauchbare Form der Demokratie sehen zu können, wie sie mir 1. als Burschenschafter aus dem Programm der Urburschenschaft und 2. als Altphilologe aus Platos „Staat“ im Sinne Bogners, der gerade „ Die vollendete Demokratie“ im alten Griechenland dargestellt hatte, vorschwebte.

Warum ich blieb, als sich dieses Ideal nicht gleich verwirklichte: in der SA lernte ich eine nicht unbedeutende Zahl einfacher Leute aus den unteren Ständen meines Volkes kennen, mit denen ich recht gut als Kamerad stand, sodaß ich hoffte, aus diesem Kreis allmählich die Idealisten und Unterführer erstehen sehen zu können, die eine wahre Demokratie errichten helfen könnten. Diese Hoffnung verstärkte sich an den gemütlichen Abenden nach dem Ausbildungsdienst in den Leibesübungen, die ich – ohne befördert zu werden – auf Vorschlag meines damaligen Sturmführers Wienken übernommen hatte, und nach denen auch zu kurzen Aussprachen und Referaten von mir Zeit und Gelegenheit war. Sehr viele von uns waren bis zum Kriege davon überzeugt, daß die vielen sog. ‚Alten Kämpfer‘, die vielfach aus egoistischen Motiven der Partei beigetreten waren, allmählich durch tüchtigere und geeignetere, idealistisch gesonnene Männer aus den jüngeren Parteimitgliedern ersetzt würden: auch ich hoffte zuversichtlich darauf.“  (29)

Wer in Partei und dem Schulwesen nachweislich keine Karriere machte, führte im Entnazifizierungsverfahren idealistische Motive an.

Der Beratende Ausschuss für die höheren Schulen empfahl, Fuss im Ruhestand einen Teil der Pension zu gewähren. Maßgeblich für die Entscheidung war die Aussage Thedes, „daß man von seiner Seite nie eine Anzeige zu befürchten brauchte, daß man vielmehr offen mit ihm reden konnte“. (30) Das blendete zumindest alles aus, was jüdische und systemkritische Schüler mit Werner Fuss erlebt hatten.

Der Berufungsausschuss kam am 9.3.1948 zu dem Ergebnis, dass Fuss mit der Pension eines Studienrates in den Ruhestand versetzt wurde und in Kategorie IV (Mitläufer) einzustufen sei. Fuss sei „zwar ein überzeugter Nationalsozialist“, aber „nicht als Aktivist zu bezeichnen“. (31)

Nachspiel: Im Kontext des Verleihung des Bertini-Preises hat Ralph Giordano dem „Hamburger Abendblatt“ zum 27.1.2012 ein Interview gegeben, in dem er berichtete, welche Rachegefühle er nach dem Krieg gegenüber seinem Peiniger, Werner Fuss, empfand:

Abendblatt: „1945. Hitler ist tot, Deutschland befreit - es hätte ein Moment der Rache werden können.“

Giordano: „Ja, und es ist erstaunlich, wie wenig Selbstjustiz damals geübt worden ist. Mein Bruder und ich wollten nach dem Krieg vier Leute töten, unter anderem einen Lehrer des Johanneums, wir nannten ihn die ‚Speckrolle“‘, der meinem Bruder und mir das Leben so zu Hölle gemacht hatte, dass ich mich wegen ihm umbringen wollte.“

Abendblatt: „Es muss viel passieren, bis ein Kind den Entschluss fasst, zu sterben.“

Giordano: „Tagelang lag ich in einem Graben im Stadtpark, ich war direkt aus der Schule dort hingerannt. Ich fühlte mich so hilflos. So allein. So einsam. Am zweiten Tag war ich wie erstarrt und in der Hoffnung, dass ich bald sterben würde. Aber dann geschah etwas, was ich bis heute nicht begreife, dieser Graben war mir eine Universität. Denn dort ist mir klar geworden: Nicht Du bist der Verbrecher. Die Speckrolle ist der Verbrecher. Und Deine Mutter ist der beste Mensch von der Welt! Was sind das für Lügen gegen die Juden? In diesem Graben bin ich Jude geworden!“

Abendblatt: „Wie sah denn die Rache an dem verhassten Lehrer aus?“

Giordano: „Zwischen Egon, meinem älteren Bruder, und mir war es so selbstverständlich, dass wir nie darüber gesprochen haben: Wir würden die Speckrolle töten. Wir haben die Speckrolle kurz nach Kriegsende aufgesucht. Ich werde es nie vergessen, wie dieser Mann uns die Tür in seiner Wohnung am Winterhuder Marktplatz öffnete, die Arme ausbreitete und rief: ‚Oh, die Giordanos!‘ Ein alter Mann in einer zerschlissenen Wolljacke und Hausschuhen, Jahre zuvor noch uniformstrotzender Nazi, SA-Führer. Als er den Blick in unsren Augen sah, hat er sich umgedreht und ist in die Wohnung gerannt. Er wollte die Tür zuschlagen, aber mein Bruder hatte den Fuß dazwischen. In seinem Wohnzimmer setzte er sich auf einen Stuhl, den Kopf legte er auf die Tischplatte vor sich. Das alles spielte sich in wenigen Sekunden ab. Ich hatte die Pistole entsichert und hinter sein rechtes Ohr gesetzt. Und dann, kurz bevor ich abdrücken wollte, sah ich in die Augen meines Bruders.“

Abendblatt: „Was haben Sie dort gesehen?“

Giordano: „Das war ein Blick in mich hinein. Egon war nicht bereit zu dem, was ich zu tun bereit war. Und als ich das merkte, dass er nicht dazu bereit war, konnte ich plötzlich auch nicht mehr.“ (32)

Während des Entnazifizierungsverfahrens war Werner Fuss von seiner Frau Paula schuldig geschieden worden, mit der er seit 1914 verheiratet gewesen war. „Er verweigere sich jeder Gemeinschaft und habe erklärt, er habe kein Interesse mehr für sie“. (33)

Da dies kein Einzelfall war, sich viele Frauen nach 1945 von ihren NS-aktiven Männern scheiden ließen, deren Leben vornehmlich in Männerbünden stattfand, sei dies erwähnt.

Paula Fuss erklärte: „Ich habe lediglich meiner Kinder willen so lange ausgehalten. Ich wäre als scharfe Gegnerin des NS-Regimes unweigerlich schuldig geschieden worden.“ (34)

Nach der Scheidung lebte Paula Fuss noch weiter getrennt im gemeinsamen Haus. Als Werner Fuss ernsthaft an Leukämie erkrankte, pflegte sie ihn bis zu seinem Tod.

Werner Fuss starb am 7. 8.1950.

Text: Hans-Peter de Lorent

 

Bertinis Speckrolle

Später dann, im Klassenzimmer, saß die neue Sexta kaum zehn Minuten über dem Ludus Latinus, dem lateinischen Lehrbuch, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein ziemlich korpulenter Lehrer eintrat – in der Hand eine Liste, Schmisse an der linken Wange und im Nacken einen rötlichen Wulst, der den Spitznamen die Speckrolle sofort verständlich machte.

Als Roman Bertini sie in dieser ersten Stunde auf dem Johanneum eintreten sah, hörte er in sich einen uralten, singenden Alarm, bei dem sich ihm die Haare sträubten. Was die Speckrolle da vorn mit dem Ordinarius besprach, verstand einstweilen noch niemand, aber alle wurden Zeugen, wie Ernst Freund schneeweiß wurde, rasch ans Fenster trat und mit dem Rücken zur Klasse starr hinausblickte.

Dann rief die Speckrolle mit etwas heiserer Stimme: “Die Juden David Hanf – Cesar Bertini – Roman Bertini vortreten!“

Als die drei sich erhoben, winkte eine knappe Handbewegung sie nach vorn, vor die Wandtafel neben der Tür. Dort standen sie, in der Mitte David Hanf, ein Junge mit glattem, blankem Schwarzhaar, schwammig von Statur und sehr unruhig. Er schaute unruhig hin und her von der Speckrolle auf den steifen, unbeweglichen Rücken des Klassenlehrers, von ihm auf die weiße Front der Gesichter. Nichts regte sich, außer David Hanfs ängstlichem, vogelhaftem Kopfrucken. Im Raum herrschte Totenstille. Die Speckrolle war nahe ans Fenster getreten, fast Anzug an Anzug mit Ernst Freund. Dann machte sie auf der Liste drei Haken, ging zur Tür, sagte, die Klinke schon in der Hand, über die Schulter zu dem Ordinarius: „Sie haben Glück, Kollege – in anderen Klassen ist die Fraktion der Itzigs erheblich stärker“, und verschwand.

Am nächsten Tag, mit der Versetzung von der Obertertia in die Obersekunda, wurden sie getrennt – die Untersekunda fiel damals 1938, auf allerhöchste Anordnung aus, weil damit ein Jahr für die vormilitärische Organisation des Arbeitsdienstes gewonnen wurde.

David Hanf wurde der OS 1 zugeschlagen, zusammen mit Peter Togel; Walter Janns in der OS 2 isoliert, während Roman und Cesar Bertini, zusammen mit Kay Krause, in die OS 3 kamen – ihr Klassenlehrer: die Speckrolle.

Längst waren die Zeiten vorbei, da sie zum Montagmorgen-Apell in schäbigem Zivil erschien. Die Speckrolle stand vielmehr seit langem in der großen Garderobe eines gehobenen SA-Führers am Kopfe der Oberprima, wenn auf den Glockenschlag acht Uhr der Schulleiter Pottferk im Mittelteil des Portals auftauchte und einen Moment den Blick majestätisch über die versammelte Schülerschaft, die Lehrer und das Hauspersonal, den hinkenden Pedell eingeschlossen, gleiten ließ, ehe er sein „Heil Hitler“ über den Innenhof bellte. Dann folgte das Auge rechts, das Auge links, das übliche Ritual – kurzer Gang in die Mitte des Hofes, stramme Kehrtwendung um die eigene Achse, das „Heiß Flagge!“ und Absingen der Nationalhymne, „Deutschland, Deutschland über alles …“, samt der obligatorischen Ergänzung durch „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert in ruhigem festen Schritt…“

Die Gebrüder Bertini waren im Laufe der Jahre innerhalb der streng gestaffelten Schülerhierarchie vom äußersten Sextanerflügel bis vor die Prima gedrungen, dem traditionellen Standort der Speckrolle also immer näher gerückt. Beim Anblick ihres quellend-rötlichen Nackenwulstes, des schmissgezeichneten, runden, zu dieser Stunde stets von politischer Ekstase hingerissenen Gesichts, hatten sich Roman jeden Montagmorgen wieder die Haare gesträubt, langsam, in Zeitlupe sozusagen, als würde sich jedes von ihnen einzeln aufrichten.

Am Tage der Annektion Österreichs war die Speckrolle über sich selbst hinausgewachsen, hatte die eigentliche Macht auf der Gelehrtenschule des Johanneums ergriffen, improvisierte eine Siegesfeier. Schritt unter dem verdoppelten Gewicht ihrer Uniform in die Mitte des Innenhofes, wo sie die gesamte Schülerschaft aus eigenem Ermessen hatte antreten lassen. Dann verkündete sie die „Heimkehr der Ostmark in den Mutterschoß Großdeutschland „, pries das Werk des Führers in starken, gefühlsbebenden, sehr beteiligten Worten, nannte sein größtes dabei aber: dass er nun auch Österreich von der Judenherrschaft befreie!

Währenddessen stand der ausgeschaltete Schulleiter Pottferk wie ein Statist inmitten der versammelten Lehrerschaft und stimmte in die allgemeinen Ovationen ein.

In seiner Rolle als Klassenlehrer der OS 3 gab sich die Speckrolle jovial. Von dem Zweikampf, der sofort zwischen ihr und Roman Bertini ausgebrochen war, von diesem stummen, tödlichen Krieg so ungleicher Kräfte, bemerkte zunächst niemand etwas außer Roman selbst. Erst allmählich fiel es auf, daß die Speckrolle, scheinbar absichtslos, über Roman hinwegsah, als säße dort vorn in der ersten Reihe niemand neben Cesar Bertini, den sie behandelte wie alle anderen auch.

Die Speckrolle unterrichtete in Latein und Griechisch, und sie übersah Roman in beiden Fächern. In seine Nähe kam sie nur, wenn sie Uniform angelegt hatte. An solchen Tagen pflegte sie sich wie zufällig und in Gedanken verloren neben ihm aufzupflanzen, mit quellendem, rötlichen Nackenwulst, Tuch an Tuch fast, schwer und über und über braun. Roman Bertini wagte nicht aufzusehen von seiner Bank, der Atem stockte ihm, er stierte vor sich hin, kroch in sich zusammen, schrumpfte förmlich vor Entsetzen. Ging die Speckrolle dann endlich beiseite, kehrte ihm langsam das Blut ins Gesicht zurück, er öffnete den Mund und stieß den Atem aus, den er gestaut hatte, bis er glaubte, ersticken zu müssen.

Schwerfällig, mit gekrauster Stirn, saß Cesar daneben und wusste nicht, wie er dem Bruder helfen sollte in seiner Not.

Sie übersetzten Plato und Homer, und als die erste Klassenarbeit zurückgegeben wurde, waren die Ränder von Romans Hefteseiten voller roter Striche und Kreuze. Es stellte sich heraus, dass niemand außer ihm Ungenügend bekommen hatte. Er verglich seine Arbeit mit der anderer. Ihre Fehler waren einzeln gesetzt, oft befand sich dazwischen der horizontale Strich, das Zeichen für einen halben Fehler, während bei Roman halbe zu ganzen und ganze zu schweren geworden waren, zusammengezogen nach einem verschachtelten System, das keinen Akzentirrtum ausließ und dessen böse Absicht nicht ohne weiteres nachzuweisen gewesen wäre. Roman hielt, während der Unterricht weiterging, das Heft aufgeschlagen und versuchte so ein einziges Mal, die Speckrolle durch offene Aufsässigkeit zu zwingen, Notiz von ihm zu nehmen.

Aber sie nahm keine Notiz von Roman Bertini. Sie sah seine Extemporale nach, füllte die Ränder mit roten Strichen und setzte darunter die Noten Mangelhaft oder Ungenügend und besser dagegen fielen die Zensuren für Cesar aus, und wenn Roman in vorsichtigen Andeutungen von Systematik und Methode sprach, so schüttelten die Mitschüler ratlos die Köpfe – mit Antisemitismus hätten die schlechten Zeugnisse doch  kaum zu  tun, denn würde der sich auch gegen Cesar richten, oder gegen David Hanf, der in der Nebenklasse ebenfalls von Speckrolle in den Altsprachen unterrichtet werde, ohne ähnliche Folgen?

Sie rieten ihm, sich besser vorzubereiten.

Als Roman Bertini im Laufe des Sommers einsah, dass er diesem fürchterlichem Kampf verlieren würde; als er die wohldurchdachte Strategie der Speckrolle erkannte, nämlich ihn auszuspielen gegen Cesar und David Hanf und ungenügender Leistungen in mehreren Fächern wegen von der Schule zu vertreiben, da kamen ihm Gedanken, die sein Wesen langsam, aber stetig veränderten.

Aus: Ralph Giordano: Die Bertinis, Fischer 2005, S. 139 ff