Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Richard Schorr Richard Reinhard Emil Schorr

(20. August 1867 Kassel - 21. September 1951 in Bad Gastein)
Astronom, Direktor der Hamburger Sternwarte.
Aumühle, Bezirk Hamburg, Alte Hege 1 (Wohnort 1945)
Schorrhöhe, Bergedorf, benannt 1955


Im September 2020 berief die Behörde für Kultur und Medien eine Kommission aus acht Expertinnen und Experten, die Entscheidungskriterien für den Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg entwickeln und Empfehlungen zu möglichen Umbenennungen aussprechen sollte.

Zur Schorrhöhe gab die Kommission im März 2022 die Empfehlung: Umbenennung mit folgender Begründung: „Schorr denunzierte Astrologen als „Volksschädlinge“ und rief seine Mitarbeiter aktiv zur Beteiligung auf. Schorrs Denunziationen konnten lebensbedrohliche Folgen haben. Damit unterstützte er aktiv NS-Verfolgungsmaßnahmen, die Konsequenzen dieses Handels für die Denunzierten müssen ihm dabei bewusst gewesen sein. Er schadete damit aktiv anderen Menschen. Eine Umbenennung ist geboten.“ (Abschlussbericht der Kommission zum Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg, Feb. 2022, www.hamburg.de/contentblob/15965308/8ee2e6d28dbd23e8df84bf75ceabda98/data/empfehlungen-kommission-ns-belastete-strassennamen.pdf)

 

Richard Schorr kam als Sohn des Rechnungsrats Reinhard Schorr und dessen Frau Elisabeth, geborene Himmelmann, am 20.8.1867 in Kassel zur Welt.[1] Dort besuchte er ab 1873 das Realgymnasium, das er 1885 mit dem Abitur beendete. Anschließend studierte er Mathematik und Astronomie – zunächst an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, dann an der Technischen Hochschule München.[2] Seine Promotion verfasste er 1889 bei Hugo von Seeliger, einem der bedeutendsten Astronomen seiner Zeit [3]. Noch im selben Jahr begann Schorr in Kiel als Redaktionsassistent bei den Astronomischen Nachrichten. Es folgten, jeweils für wenige Monate, Tätigkeiten als Assistent an der Großherzoglichen Sternwarte Karlsruhe und am Königlichen Astronomischen Rechen-Institut, das damals zur Berliner Sternwarte gehörte, sowie als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der Sternwarte Hamburg, die sich zu der Zeit am Holstenwall nahe dem Millerntor befand. 1892 erhielt er in Hamburg eine Stelle als Observator, die er bis Ende 1901 inne hatte.[4] Zunehmend vertrat er den Direktor George Rümker, der unter gesundheitlichen Problemen litt, in Verwaltungsangelegenheiten.[5] Nach Rümkers Rücktritt 1899 [6] übernahm Schorr im Januar 1902 die Leitung der Sternwarte. In dieser Position setzte er ihren bereits von Rümker angestrebten Umzug in den Hamburger Vorort Bergedorf durch – Licht, Rauch und Erschütterungen in der Innenstadt hatten die astronomischen Beobachtungen zunehmend erschwert.

Die 1913 offiziell eingeweihte neue Sternwarte in Bergedorf gehörte zu den größten astronomischen Instituten in Europa und entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zu den weltweit führenden.[7] Als Direktor einer wissenschaftlichen Anstalt war Schorr automatisch zum Professor ernannt worden. Mit Gründung der Hamburgischen Universität 1919 wurde die Sternwarte in diese integriert und Schorr als ordentlicher Professor berufen. Im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit an der Sternwarte standen unter seiner Leitung die traditionelle Astronomie, darunter vor allem die Frage der Sternpositionen, aber auch die sich neu entwickelnde Astrophysik.[8] Er war Mitglied der Leopoldinisch-Carolinischen Akademie in Halle, der Astronomischen Gesellschaft, des Vorstandsrats des Deutschen Museums in München[9] und wurde 1935 in die Royal Astronomical Society gewählt.[10] 1920 holte er den Astronomen Walter Baade (1893–1960) als seinen Assistenten nach Bergedorf[11], 1927 den Astronomen Bernhard Schmidt (1879–1935).[12]

Bei der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Januar 1933 war Schorr 65 Jahre alt. Im Juli 1933 übernahm er für das Amtsjahr 1933/34 noch den Posten des Dekans der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät. Danach musste er mit seiner Emeritierung rechnen. Mit einem mehrseitigen Schreiben an die Hamburger Landesunterrichtsbehörde, Hochschulwesen, bat er dringend um Aufschub, da die Beendigung einer Reihe von ihm initiierter wichtiger Forschungsaufgaben sonst „ernstlich erschwert“ würde.[13] Vergeblich – er wurde zum 31. März 1935 entpflichtet, durfte allerdings seine Lehrtätigkeit noch so lange wahrnehmen, bis ein Nachfolger gefunden war.[14] Die Suche nach diesem dauerte jedoch bis April 1941, sodass Schorr bis dahin als kommissarischer Leiter der Hamburger Sternwarte fungierte. Schorrs Wunschkandidat Walter Baade lehnte die Berufung 1937 ab. Er war seit 1931 am Mount-Wilson-Observatorium in Kalifornien tätig und entschied sich 1937, dort zu bleiben, obwohl Hamburg ihm die Erfüllung aller seiner Forderungen zugesagt hatte. Schorr schlug daraufhin den Astronomen Otto Heckmann vor – „unzweifelhaft der fähigste“ Kandidat – und auch Baade schrieb in einem Auftragsgutachten, „er allein sollte in Frage kommen“.[15] Heckmann gehörte der NSDAP, dem NS-Fliegerkorps, dem Nationalsozialistischen Lehrerbund und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt an.[16] Trotzdem sprach sich der NS-Dozentenbund zunächst gegen ihn aus, da er „auf dem Boden der relativitätstheoretischen Weltanschauung“ stünde und damit „zu den Verfechtern dieser im wesentlichen jüdischen Wissenschaftshaltung“ zählte.[17] Schließlich setzte sich Schorr durch – gestützt durch zahlreiche Fachgutachten, aber auch, weil Heckmann zu seiner angeblich „relativitätstheoretischen Weltanschauung“ mit einer „geschickt formulierte[n] Abschwörformel“ Stellung nahm und sich damit der nationalsozialistischen Ideologie anpasste.[18] Im April 1941 wurde er als ordentlicher Professor und Leiter der Hamburger Sternwarte berufen, seine offizielle Ernennung folgte im Januar 1942.

Bereits ab Frühjahr 1933 waren auf Basis des von den Nationalsozialisten am 7. April des Jahres erlassenen Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ reichsweit Massenvertreibungen von Hochschullehrerinnen und -lehrern erfolgt. „Nicht arische“ und „politisch unerwünschte“ Mitglieder des Lehrkörpers waren entlassen oder in den Ruhestand versetzt worden. In Hamburg gab es mit 21,4 Prozent des Lehrkörpers überdurchschnittlich viele Entlassungen.[19] Laut dem Astrophysiker Jochen Schramm, der sich intensiv mit der Geschichte der Hamburger Sternwarte beschäftigte und von 1982 bis 1995 selbst dort tätig war, findet sich „in all den auffindbaren Unterlagen der Sternwarte bislang [bis 2010, d. Verf.] jedoch kein Fall, der diesen Repressionen unterworfen gewesen wäre.“[20] Auch gab es laut Schramm an der Sternwarte keine Anhänger der nationalsozialistisch geprägten „Deutschen Physik“.[21] Diese vermischten die Physik mit rassistischen und antisemitischen Ansichten und lehnten vor allem die Relativitätstheorie Albert Einsteins als „jüdische Physik“ ab.

Noch 1933 unterzeichnete Richard Schorr das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischer Staat“, das am 11. November 1933 „zur Feier der nationalsozialistischen Revolution“ veröffentlicht wurde.[22] Der NSDAP gehörte er nicht an. Als er im Februar 1938 den „Fragebogen zum Zwecke der Vervollständigung der Personalakte“ ausfüllen musste, in dem Mitgliedschaften abgefragt wurden, beantwortete er die Frage „Sind Sie Mitglied der NSDAP?“ mit „Nein!“. Laut seinen anderen Angaben in dem Fragebogen war er seit dem 1. April 1935 Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), eines der NSDAP angeschlossenen Verbandes, und seit 1936 des Nationalsozialistischen Lehrerbunds (NLB).[23] Die Frage nach weiteren Mitgliedschaften in dem „Ergänzungsblatt“ von Oktober 1938 zum Fragebogen beantwortete er mit „Nein!“.[24] Eine Entnazifizierungsakte zu Richard Schorr mit einem Fragebogen des „Military Goverment for Germany“, der unter anderem Mitgliedschaften in NS-Verbänden und -Gliederungen abfragte, liegt nicht vor.

Mit Kriegsbeginn am 4. September 1939 stellte die Staatsverwaltung der Hansestadt Hamburg den Forschungs- und Lehrbetrieb der Hamburger Sternwarte „für die Dauer des Kriegszustandes“ ein.[25] Die Sternwarte übernahm stattdessen militärische Aufgaben. Sie lieferte Daten für die Navigation von Kriegsmarine und Luftwaffe sowie aerodynamische Berechnungen für den Flugzeugbau.[26] Im August 1940 wurde zudem auf dem Dach des Hauptgebäudes eine militärische Beobachtungsstelle errichtet, eine Flakbefehlsstelle zog in das Direktorenwohnhaus.[27] Die Umwandlung der Hamburger Sternwarte in ein „kriegswichtiges Institut“ erfolgte bis April 1941 unter Schorrs Leitung. Inwieweit er diesen Vorgang beeinflusste, ist nicht bekannt.

Laut Jochen Schramm reichten „Schorrs Kontakte mit den Nazis […] von artigem Gehorsam bis zur Ausnutzung bei den Problemen, gegen die er immer schon einmal gerne vorgegangen wäre: z. B. gegen die Astrologen.“[28] Bereits am 23. August 1933 schrieb Schorr als Vorsitzender des Ausschusses der Deutschen Astronomen an das Reichsinnenministerium:

„Die Deutschen Astronomen betrachten es als ihre nationale Pflicht, die Reichsregierung zu bitten, bei ihrem Vorgehen zur Säuberung des öffentlichen Lebens in Deutschland auch dem überall eingerissenen astrologischen Unfug Einhalt zu gebieten.

Täglich werden Tausende von Volksgenossen besonders der minderbemittelten Schichten durch ‚Astrologen‘ beschwindelt und um ihr Geld gebracht. In fast allen Zeitungen, selbst in ernsthaften Zeitschriften, finden sich fortlaufend Anzeigen von Schwindlern, die sich erbieten, Horoskope zu stellen die Zukunft vorauszusagen u.s.w. Vorträge werden gehalten, die einen riesigen Zulauf haben, auch in Warenhäusern werden Horoskope verkauft. In einem Warenhaus in Leipzig hat vor kurzem ein solcher Schwindler in wenigen Tagen sich mit seinen absolut sinn- und wertlosen Horoskopen mehrere tausend Mark Einnahme verschafft. Es besteht eine grosse astrologische Litteratur, es gibt astrologische Zeitschriften und Buchhandlungen, selbst in der Buchauslage des Deutschen Museums in München liegen astrologische Bücher zum Verkauf aus. Staatsanwalt und Polizei haben die Leihbüchereien und Zeitungsstände erfreulicherweise weitgehend von Schmutzschriften gesäubert; ebenso muss auch der astrologische Schund beseitigt werden.

Der ‚Ausschuss der Deutschen Astronomen‘ als Vertreter der astronomischen Wissenschaft in Deutschland bittet die Reichsregierung, durch Anweisung der zuständigen Behörden und durch Aufklärung des Volkes dem astrologischen Aberglauben und damit der gewissenlosen Ausbeutung weiter Kreise unseres Volkes entgegenzutreten.

Wir Deutschen Astronomen sind gern bereit, die staatlichen Behörden in diesem Kampf gegen den astrologischen Unfug in jeglicher Weise zu unterstützen.

Ein gleichlautender Antrag wird auch an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gerichtet.“[29]

In dem Schreiben äußerte sich Schorr anerkennend über die „Aktion wieder den undeutschen Geist“ („Staatsanwalt und Polizei haben die Leihbüchereien und Zeitungsstände erfreulicherweise weitgehend von Schmutzschriften gesäubert“) und nennt sie als Vorbild für den Umgang mit astrologischen Schriften. Höhepunkt der Aktion war die öffentliche Verbrennung von Büchern vor allem jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller am 10. Mai 1933. Die Unterstützung, die Schorr dem Reichsinnenministerium abschließend anbot, damit gleichermaßen „der astrologische Schund beseitigt“ würde, bestand aus konkreten Maßnahmen: „Wann immer in Hamburg ein Vortrag angekündigt wurde, der im Entferntesten nach Astrologie roch, schickte Schorr zwei Spitzel unter die Zuhörer, die anschließend einen Bericht ablieferten, der von Schorr umgehend an die Gestapo weitergeleitet wurde.“[30] So besuchten die beiden Astronomen Dr. Johannes Larink (1893–1988) und Dr. Wilhelm Dieckvoß (1908–1982) in Schorrs Auftrag zwei Vorträge des Astrologen Karl Friedrich Schulze am 27. und 28. November 1936 in Hamburg. Ihren ausführlichen Bericht über die Vorträge schickte Schorr an die Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Hamburg, und kommentierte ihn in einem Begleitbrief mit den Worten: „Es ergibt sich daraus, dass man die Machenschaften der Astrologen dauernd überwachen muss und nicht scharf genug gegen diese Volksschädlinge vorgehen kann.“[31] Sinngemäß hatte er bereits wenige Tage vorher in einem Schreiben an die Hamburger Gestapo den Begriff „Volksschädlinge“ im Sinne der NS-Ideologie verwendet, in dem er „der Astrologie“ die „Schädigung der gesamten Volksgemeinschaft“ zuschrieb.[32]

Das Schreiben an die Reichsregierung legte er am 16. Juli 1934 auch einem Brief an die Landesschulbehörde, Hochschulwesen bei, nachdem er offenbar um Stellungnahme zu einem von sieben Personen unterzeichneten Antrag auf Eintragung eines „Astrologischen Clubs zu Hamburg“ in das Hamburger Vereinsregister gebeten worden war. Dazu schrieb er: „Im Sinne dieses Antrags bitte ich, auch in Hamburg alles zu tun, um dem [sic!] astrologischen Unfug zu steuern und daher den Antrag auf Eintragung des ,Astrologischen Clubs’ in das Vereinsregister abzulehnen.“[33] Dieser Bitte kamen die maßgeblichen Stellen nach: Anfang September 1934 war im Amtlichen Anzeiger zu lesen, dass die Polizeibehörde den Club „für das gesamte hamburgische Stadtgebiet verboten und aufgelöst“ hätte.[34]

Schorrs Denunziation von Astrologen bei der Gestapo konnte für diese lebensbedrohliche Folgen haben. Laut Jochen Schramm waren folgende Personen betroffen: Wilhelm Theodor Heinrich Wulff, Karl Friedrich Schulze, Peter Siegfried Georg Heinrich Zimmermann, Karl Christian Günther.[35] Außerdem wies Schorr den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS auf Ludwig Rudolph hin.[36] Alfred Witte, den Schramm ebenfalls im Zusammenhang der „Opfer“ Schorrs nennt, war diesem aber offenbar nicht bekannt.[37]

Zu Wilhelm Wulff (1893–1984) liegen zahlreiche Informationen und Selbstzeugnisse vor.[38] Er wurde dreimal verhaftet und war insgesamt mehr als vier Monate inhaftiert: 1934 in Berlin (Gefängnisse am Alexanderplatz und in Moabit), 1937 und 1941 in Hamburg (Polizeigefängnis Fuhlsbüttel). In Berlin wurde ihm die „Verbreitung von Schriften theosophischen und charakterologischen Inhalts“ vorgeworfen, außerdem, dass er „Vorsitzender eines Klubs für psychologische und charakterologische Forschung war und ferner die Beratung und Unterstützung von Personen, die der Röhm-Affäre nahestanden“[39] übernommen hatte. Seine Verhaftung in Hamburg 1937 führte er auf seine Vortragstätigkeit zurück, an deren Überwachung sich Richard Schorr beteiligt hatte. Sie könnte aber, so die Historikerin Alyn Beßmann, auch mit seinen Bestrebungen in Zusammenhang gestanden haben, eine astrologische Schule zu gründen.[40] Zu Wulffs entsprechendem Antrag bat die Gestapo Schorr um eine Stellungnahme. Dieser antwortete: „Der Antrag des Herrn Wulf bezweckt [...] einen Aberglauben zu fördern und zu vertiefen, der im Interesse des gesamten Volkes unbedingt beseitigt werden sollte.“[41] Die Kultur- und Schulbehörde teilte Wulff daraufhin mit, dass ihm die Erlaubnis, die gewünschte Schule zu gründen, „auf Grund der hamburgischen Verordnung über das Wahrsagen vom 10. November 1936“ versagt sei.[42] Paragraf 1 der Verordnung besagte: „Das entgeltliche Wahrsagen, die öffentliche Ankündigung entgeltlichen oder unentgeltlichen Wahrsagens und den Handel mit Druckschriften, die sich mit Wahrsagen befassen, ist verboten.“[43] Zuwiderhandlungen würden mit Geldstrafen bis zu 150 Reichsmark oder mit Haft bis zu 14 Tagen bestraft.[44] In seinen 1968 erschienenen Lebenserinnerungen berichtet Wulff, dass er bei seiner dritten Inhaftierung 1941 im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel „nervenzerreibenden Verhören“ sowie „körperlichen Misshandlungen“ ausgesetzt war und „körperliche Schwerarbeit“ leisten musste.[45] Sowohl in seinen Erinnerungen als auch in seinem Wiedergutmachungsverfahren schildert er zudem ausführlich, wie er nach seiner Freilassung Horoskope für führende Nationalsozialisten erstellen musste.“[46]

Auch der technische Kaufmann und Verleger Ludwig Rudolph (1893–1982) gehörte zu den Astrologen, die im Frühsommer 1941 in Hamburg verhaftet wurden. Er war vom 9. bis 28. Juni 1941 im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel inhaftiert.[47] Durch Richard Schorrs bereits erwähnten Hinweis war Rudolph dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS aber bereits seit dem Sommer 1937 bekannt.[48]

Rudolph berichtete auch 1947 dem Komitee ehemaliger politischer Gefangener, dass sich der Hamburger Astrologe Alfred Witte aus Angst vor der Verhaftung selbst getötet hätte: „Nach meiner Entlassung aus dem Polizeigefängnis Fuhlsbüttel übte ich meinen technischen Beruf weiter aus. Ein bitterer Schlag wurde mir noch von der Gestapo versetzt, indem durch ihre Drangsalierung der Mann, dessen geniale Entdeckungen auf astrologischem Gebiet den Inhalt meiner Verlagsarbeit bilden, freiwillig aus dem Leben ging.“[49] Wittes Tochter Marion schrieb dazu 1958 im Antrag auf Wiedergutmachung: „Am 4. August 1941 hat sich mein Vater […] in unserer Wohnung erhängt. Auf dem Tisch stand ein Schild: ,Ich gehe nur aus dem Leben, weil ich nicht in das K.Z. will’. Sie haben meinen Vater regelrecht in den Tod getrieben.“[50] Auch Witte wurde offenbar im Zuge der Verhaftungswelle nach Heß’ England-Flug verhaftet. Am 4. Juli 1941, so Marion Witte, durchsuchte die Gestapo die Wohnung der Familie und führte ihn ab. Am nächsten Tag kam er zurück, durfte Hamburg jedoch nicht verlassen. Wiederholt hätte ihn die Gestapo in den folgenden Wochen verhört.[51] Witte (geboren 1878) war technischer Oberinspektor im Vermessungsamt Hamburg gewesen und hatte 1928 das von Rudolph verlegte „Regelwerk für Planetenbilder“ verfasst. Dieses Buch, Grundlage der „Hamburger Schule“ der Astrologie, war 1936 verboten worden.[52] Als der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS Richard Schorr am 27. Juli 1937 um eine Stellungnahme zur astrologischen Methode Alfred Wittes bat, antwortete Schorr, dieser sei ihm nicht bekannt.[53] Die Gestapo kam also nicht aufgrund einer Denunziation Schorrs auf Witte. Schorrs Zusammenarbeit mit der Gestapo, so Alyn Beßmann, trug aber zumindest indirekt dazu bei, ein Klima der Angst unter den Astrologen zu erzeugen, aufgrund derer sich Alfred Witte schließlich das Leben nahm. [54]

Über den Verbleib von Karl Friedrich Schulze, Siegfried Zimmermann und Karl Christian Günther konnte nichts ermittelt werden.

Während Schorr Astrologen bei der Gestapo und dem Reichssicherheitsdienst SS denunzierte und ein Vorgehen gegen diese „Volksschädlinge“ forderte, dass „nicht scharf genug“ sein könne, soll er, neueren Aussagen zufolge, anderen NS-Verfolgten geholfen haben. So schrieb der Kieler Historiker Walter Stephani, der mit Familienangehörigen Schorrs sprach und Zugang zu unveröffentlichter Korrespondenz aus Familienbesitz hatte, 2014 in einem Aufsatz über den Astronomen: „Während der NS-Zeit versuchte Schorr, Kollegen zu helfen, die in Deutschland ihre Stellung aufgrund ihrer ‚nichtarischen‘ Herkunft verloren hatten und emigrieren mußten. Dazu nutzte er seine Kontakte zu Kollegen außerhalb Deutschlands. Zu nennen ist z. B. Hans Rosenberg, der 1933 wegen seiner ‚nichtarischen Herkunft‘ vorübergehend beurlaubt wurde. Rosenberg emigrierte daraufhin in die USA. Richard Schorr half Rosenberg in bürokratischen und privaten Dingen, u. a. löste Schorr in dessen Auftrag seinen Haushalt auf.“[55]

Und in einem Leserbrief, der am 17. Februar 2018 in der Bergedorfer Zeitung erschien, wies Ulrike Badstuber darauf hin, dass Schorr ihre Mutter Gertrud Badstuber, die nach der NS-Rassentheorie als „Halbjüdin“ galt und an der Sternwarte arbeitete, bis zu seiner Pensionierung unterstützt und zudem mehreren jüdischen Wissenschaftlern geholfen hätte, den Nationalsozialisten zu entkommen. Dies wüsste sie aus Erzählungen ihrer 2007 gestorbenen Mutter. Auch seien alle Wissenschaftler, die damals an der Sternwarte gearbeitet hätten, „absolute Gegner der Nazis“ gewesen.[56] Für beide Aussagen, Stephanis und Badstubers, fehlen allerdings schriftliche Quellen. Die belegten Maßnahmen Schorrs gegen die Astrologen ließen sich dadurch aber ohnehin nicht relativieren – auch weil sich sogenannte gute Taten als „Ablassgeschäft“ nicht gegen schlechte aufrechnen lassen.

Am Ende seiner beruflichen Karriere wurde Schorr noch zweifach geehrt: Am 23. Januar 1941 überreichte der damalige Präsident der 1700 gegründeten Preußischen Akademie der Wissenschaften, SS-Oberführer Professor Dr. Theodor Vahlen, ihm einer öffentlichen Sitzung „an der viele führende Persönlichkeiten von Staat, Partei und Wehrmacht“ teilnahmen, die Bradley-Medaille für „herausragende Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Astronomie“.[57] Zu seinem 75. Geburtstag am 20. August 1942 zeichnete ihn zudem der Reichskanzler und Führer der NSDAP Adolf Hitler „in Anerkennung seiner Verdienste um den Ausbau der astronomischen Wissenschaft“ mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft aus.[58]

Als Schorr im August 1947, zwei Jahre nach Kriegsende, seinen 80. Geburtstag beging, gratulierte ihm bei einer kleinen Feier in der Bibliothek der Sternwarte der Rektor der Hamburger Universität Professor Dr. Emil Wolff und überbrachte Schulsenator Heinrich Landahl die Glückwünsche des Senats.[59] Dabei überreichte er Schorr ein Schreiben, in dem Hamburgs damaliger Erster Bürgermeister Max Brauer ihm mitteilte, dass der Senat beschlossen hätte, ihn als besondere Ehrung porträtieren zu lassen. Dieses Bildnis sollte „zur bleibenden Erinnerung einen Ehrenplatz im Bibliothekssaal der Sternwarte einnehmen“.[60] Schorr lehnte allerdings den vorgeschlagenen Künstler Otto von Krumhaar ab. Er sei bereits von Max Liebermann porträtiert worden und hätte „genügend Beziehung zur Malerei, um sich […] über sich das künstlerische Vermögen des Herrn v. K. ein zuverlässiges Bild machen zu können.“[61] Im Juni 1948 schlug Schorr dem damaligen Senatssyndikus Kurt Sieveking vor, das Geld für das Porträt doch lieber dafür auszugeben, „einige Leute in der Sternwarte weiterzubeschäftigen“, die infolge der bevorstehenden Währungsreform möglicherweise vor Beendigung ihrer Projekte entlassen werden müssten.[62] Da eine solche Umwidmung der Gelder jedoch nicht möglich war, wollte sich Schorr weiter nach einem geeigneten Porträtmaler umsehen. Angang 1950 hatte er einen Künstler gefunden: Karl Kluth, Mitglied der Hamburgischen Sezession und Professor an der Hamburger Hochschule für bildende Künste.[63] Sein Porträt von Richard Schorr befindet sich bis heute in der Bibliothek der Sternwarte. Am 2. Juli 1949 hatte die Universität München zudem „in Anerkennung der großen Verdienste“ Schorrs durch den Bau der größten und modernsten Sternwarte Deutschlands in Bergedorf „und durch die Organisation und Durchführung großer internationaler astronomischer Arbeiten“, seinen Doktorgrad erneuert, den sie ihm am 3. Juli 1899 verliehen hatte.[64]

Am 21. September 1951 starb Richard Schorr mit 84 Jahren während eines Kuraufenthalts in Bad Gastein, Österreich, an einem Herzinfarkt.[65] Seinen Nachruf beendet sein ehemaliger Kollege an der Bergedorfer Sternwarte, Arnold Schwassmann, mit den Worten: „Die vielen Freunde, die Richard Schorr sich als Wissenschaftler wie als Mensch in aller Welt erworben hat, werden ihn sehr vermissen und sein Andenken hoch in Ehren halten. Alle, die das Glück hatten, unter ihm zu arbeiten, empfinden seinen Verlust fast wie den eines Vaters, der ihnen treusorgend mit Rat und Tat zur Seite stand. Weit mehr noch haben seine nächsten Angehörigen, seine Gattin und die vier Söhne und drei Töchter, denen seine ganze Liebe galt, durch den Heimgang dieses aufrechten und lebenstüchtigen Mannes verloren.“

Fast vier Jahre später, am 15. März 1955, teilte Kurt Sieveking, inzwischen Erster Bürgermeister Hamburgs, Schorrs Witwe mit, dass der Senat beschlossen hätte, das Andenken Schorrs dadurch zu ehren, dass eine Straße in unmittelbarer Nähe der Sternwarte nach ihm benannt würde. Sie würde künftig den Namen „Schorrhöhe“ tragen. Sieveking fuhr fort: „Es ist mir eine Freude, Ihnen diesen Beschluß des Senats mitzuteilen, durch den Ihr um die Hamburger Sternwarte hochverdienter Gatte über die zu Lebzeiten empfangenen Anerkennungen und Auszeichnungen hinaus eine Ehrung erfahren wird, die die Erinnerung an ihn auch in der Zukunft lebendig erhält. Sein Name wird stets genannt werden als der eines Mannes, der nicht nur im Kulturleben Hamburgs für mehrere Jahrzehnte eine hervorragende Bedeutung hatte, sondern dessen Lebensarbeit auf seinem wissenschaftlichem Fachgebiet auch weit in die Welt ausstrahlte.“

Die von Schorr denunzierten Astrologen und ihre Angehörigen werden sich diesen Huldigungen nicht angeschlossen haben. Laut des Astrophysikers Jochen Schramm lehnen zwar fast alle professionell arbeitenden Astronomen die Astrologie ab.[66] Richard Schorr wollte die Astrologen jedoch bekämpfen, indem er der Gestapo zuarbeitete. Damit vollzog er bewusst und entschieden den Schritt von der wissenschaftlichen Ablehnung hin zur aktiven Unterstützung von NS-Verfolgungsmaßnahmen. Erst 2010, durch Jochen Schramms Recherchen zur Hamburger Sternwarte in der NS-Zeit, kamen die entsprechenden, durch zahlreiche Quellen belegten Informationen erstmals an die Öffentlichkeit.

Am 28. März 2019 beschloss die Bezirksversammlung Bergedorf auf der Basis eines universitären Gutachtens die von einer externen Arbeitsgruppe vorgeschlagene Umbenennung der Schorrhöhe in Bernhard-Schmidt-Höhe.[67] Dabei war der Arbeitsgruppe bewusst, dass es in Bergedorf bereits einen Schmidtweg gibt, der nach Bernhard Schmidt benannt ist. Der Bezug „Schmidtweg“ und „Bernhard Schmidt“ sei in der Öffentlichkeit aber so gut wie unbekannt. Zwischen den beiden Wegebenennungen dürfte es daher nicht zu Verwechslungen kommen.[68] Hier drängt sich allerdings die Frage auf, weshalb die Schorrhöhe nicht nach einem der – mittlerweile gestorbenen – Astrologen benannt werden soll, die durch Schorrs Denunziation zum Opfer des NS-Regimes wurden.

Gemäß den Bestimmungen des Hamburger Senats für die Benennung von Verkehrsflächen entscheidet – auf Basis einer Expertise des Hamburger Staatsarchivs – die Senatskommission über Neu- oder Umbenennungsvorschläge.[69] Der Beschluss der Bezirksversammlung zur Umbenennung der Schorrhöhe in Bernhard-Schmidt-Höhe muss dazu als Antrag an das Staatsarchiv weitergegeben werden. Die Autorin erhielt Mitte Oktober 2019 auf die Frage nach dem Stand des Umbenennungsverfahrens vom Staatsarchiv die Information, dass die Umbenennung in Bernhard-Schmidt-Höhe noch nicht als Antrag vorliegen würde und für das Staatsarchiv „daher die Meinungsbildung im Bezirk als noch nicht abgeschlossen“ gelte. [70]
Am 5. November 2019 – rund sieben Monate nach der Beschlussfassung – erkundigte sich die Fraktion der Partei Die Linke in der Bezirksversammlung Bergedorf mit einer großen Anfrage bei dem Bergedorfer Bezirksamt nach dem Sachstand im Hinblick auf die Umbenennung. [71] In seiner Antwort teilte das Bezirksamt zunächst mit, dass es am 4. April 2019 den Beschluss der Bezirksversammlung per Mail an das Staatsarchiv weitergegeben hätte. [72] Eine Aussage, die der oben zitierten Auskunft des Staatsarchivs an die Autorin diametral entgegensteht. Des Weiteren gab das Bezirksamt die Antwort des Staatsarchivs vom 11. April 2019 auf den Eingang des Beschlusses wieder. In dieser Antwort informierte das Staatsarchiv das Bezirksamt darüber, dass es ein Gutachten zu knapp 60 Personen in Auftrag gegeben hätte, nach denen in Hamburg Verkehrsflächen benannt sind und die eine mögliche NS-Vergangenheit in ihren Biographien aufweisen. Zudem würden einzelne Personen untersucht, die zukünftig für eine Verkehrsflächenbenennung in Frage kommen könnten und deren Lebensdaten eine mögliche NS-Vergangenheit nicht ausschließen können. Das Gutachten solle unter anderem zur Bildung von und Entscheidungskriterien für die Umbenennung einer Verkehrsfläche führen und damit die bisherige Praxis „isolierter Einzelfallentscheidungen“ ablösen. In dieser „wissenschaftlich fundierten Studie“ sei auch die Person Richard Schorrs berücksichtigt. Rund sechs Monate später, am 11. November 2019, hätte das Staatsarchiv dem Bezirksamt dann mitgeteilt, dass vor Mitte 2020 nicht mit Senatsbeschlüssen zu Straßenbenennungen zu rechnen sei. [73]

Text: Frauke Steinhäuser