Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

St. Pauli


Stadtteil St. Pauli in der NS-Zeit

St. Pauli war in der Vorkriegszeit im Wesentlichen durch seine Hafennähe geprägt, die dem Stadtteil einerseits eine große Anzahl an Arbeiterinnen und Arbeitern und anderseits ein vielfältiges Vergnügungsangebot rund um die Reeperbahn und den Spielbudenplatz bescherte. Die Mehrheit der rund 63.300 Einwohner (1933) lebte in einfachen und kleinen Wohnungen, die überwiegend im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Ein Großteil der St. Paulianer und St. Paulianerinnen war im Hafen, auf den Werften und in der Industrie beschäftigt. Andere verdienten ihren Lebensunterhalt im Handwerk, als Gewerbetreibende oder als Hausangestellte. Im „roten“ St. Pauli konnten sich SPD und KPD einer großen Anhängerschaft sicher sein. Seit Beginn der 1930er Jahre gehörten gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und NSDAP-Anhängern zum Alltag in St. Pauli. Und auch am 5. März 1933 wählten noch 32% aller St. Paulianer und St. Paulianerinnen die KPD, aber bereits 35% gaben der NSDAP ihre Stimme. Wie überall in Hamburg und reichsweit hatten sich auch hier Opportunismus und die Parteinahme für die NSDAP Bahn gebrochen. Zudem erschwerte die nach dem Reichstagsbrand einsetzende Verfolgungs- und Verhaftungswelle gegen politische Gegner ein öffentliches Agitieren, sodass sämtliche Aktionen illegal organisiert werden mussten. In besonderer Weise waren dabei die Arbeiter auf den Werften engagiert, vor allem bei Blohm & Voss, die beispielsweise 1936 mit Flugblättern vor der drohenden Kriegsgefahr warnten.

Der neuen Regierung war dieser Stadtteil und seine Bewohner schon frühzeitig ein Dorn im Auge, wie eine soziologische Studie der Universität Hamburg von 1934/35 über „gemeinschädigende Regionen“ zum Ausdruck bringt: „St. Pauli zählt als Verfallsgebiet mit zu den linksradikalsten Teilen Hamburgs. Hier haben die minderwertigsten ,Geistes- und Moralkrüppel‘ von je her festen Fuß gefaßt. Infolge des internationalen Verkehrs, der niedrigen sozialen Lage und des geringen Einkommen-Niveaus der meisten dort Wohnenden ist der Prozentsatz der Unabhängigen und Kommunisten in den Wohngebieten am Hafen stets am größten gewesen. Die Wahlen bis zum Jahre 1933 hier zeigen Sätze bis zu 60% Kommunisten von der Gesamtheit der Wähler. Daß sich dieses Verhältnis seit der nationalen Revolution noch nicht grundlegend gebessert hat, zeigt mit erschreckender Deutlichkeit das Ergebnis der Volksabstimmung am 19. August 1934. Danach betrug der Anteil der Nein-Stimmen, der ungültigen Stimmen und der Stimmenthaltungen an der Zahl der Abstimmungsberechtigten in unserer Region 36,36%. Oder positiv gedeutet: nur 63,64% aller Abstimmungsberechtigten sind entschieden für die nationale Regierung eingetreten. Diese stille Feindschaft, die in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt, muß jeden Verantwortlichen bedenklich stimmen … St. Pauli enthält eine sehr große Anzahl jener Elemente wie Verbrecher, Zuhälter und Prostituierte, die grundsätzlich Feinde jeder staatlichen Ordnung sind.“

Eines der erklärten Ziele der nationalsozialistischen Politik lag in der Bekämpfung der „asozialen Elemente“, zu denen neben den als „Arbeitsscheue“ stigmatisierten Erwerbslosen sowie Empfängerinnen und Empfängern von staatlicher Fürsorge auch die Prostituierten gezählt wurden. Dabei ging es nicht um ein generelles Verbot der Prostitution, sondern darum, die Prostituierten aus dem Straßenbild zu verbannen. Aus diesem Grund wurde die Herbertstraße durch Verriegelung mit Eisentoren zum Sperrgebiet erklärt. Die Reglementierungen trafen auch sich gelegentlich prostituierende Frauen und Männer in den Wohngebieten. Die Diskriminierung und Verfolgung der Homosexuellen, die in dem als tolerant geltenden Stadtteil bis dahin einigermaßen sicher leben konnten, spitzte sich ebenfalls immer mehr zu. Die große Zahl der Stolpersteine für homosexuelle Opfer aus St. Pauli spiegelt diesen Verfolgungsprozess wieder.

In den zahlreichen Tanz- und Vergnügungslokalen, in den Theatern und Varietés am Spielbudenplatz und an der Reeperbahn vergnügte man sich auch nach 1933, nun jedoch im nationalsozialistischen Zeitgeist. Dem widersprach natürlich auch die Musik der „Swing-Jugend“, die sich regelmäßig im „Cafe Heinze“ am Millerntor traf. Aber hinter verdunkelten Fenstern konnte immerhin dem Tanzverbot, das nach Kriegsbeginn verhängt wurde, manches Mal getrotzt werden.

1933 lebten fast 600 Jüdinnen und Juden in St. Pauli. Das entsprach in etwa 1% der Bevölkerung im Stadtteil und lag nur unwesentlich unter dem Hamburger Durchschnitt. Ein beträchtlicher Teil von ihnen war seit Anfang des Jahrhunderts aus Polen eingewandert. Vor allem an den Haupteinkaufsstraßen, am Schulterblatt und an der Reeperbahn, hatten sich zahlreiche jüdische Geschäfte und Betriebe angesiedelt. 1939 hatte sich der Anteil der jüdischen Bürgerinnen und Bürger wie im gesamten Hamburger Stadtgebiet aufgrund zunehmender Repression bereits um etwa die Hälfte vermindert. Etlichen war die Auswanderung gelungen, andere waren inhaftiert oder ermordet worden, nicht wenige waren in staatlichen Einrichtungen interniert. Einige hatten den Suizid gewählt, weil sie sich dem permanenten Verfolgungsdruck nicht länger gewachsen fühlten.

Es gab zwei jüdische Einrichtungen in St. Pauli: Während das Jüdische Krankenhaus an der Simon-von-Utrecht-Straße bis 1933 auch der nichtjüdischen Bevölkerung offenstand, wurde die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße ausschließlich von jüdischen Schülerinnen, ab 1939 auch von Schülern, besucht, von denen viele aus dem Grindelviertel kamen. Die Turnhalle der Schule wurde im November 1941 im Zuge der Deportationen nach Minsk als Abfertigungshalle für Gepäck genutzt.

Die Hafennähe und zahlreiche Vergnügungsangebote waren seit jeher ein Anziehungspunkt für viele Menschen. St. Pauli galt als weltoffen, sodass Migrantinnen und Migranten verschiedener Nationalität sich hier niederließen. In der Schmuckstraße, in unmittelbarer Nähe zur Großen Freiheit, und in den angrenzenden Straßen hatte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die „Chinatown“ Hamburgs gebildet, bis ihr im Mai 1944 die Gestapo im Zuge der „Chinesenaktion“ ein gewaltsames Ende bereitete.

Die dichte Bebauung St. Paulis mit seinen vielen Hinterhöfen galt der NSDAP als schwer kontrollierbares und undurchsichtiges Gebiet, in dem die „marxistisch verseuchte Arbeiterschaft“ sich einem unmoralischen Lebenswandel hingab. Neben der Bekämpfung der „allgemeinen Asozialität und politischen Radikalität“ hatte sie vor allem in städtebaulicher Hinsicht große Veränderungen für St. Pauli im Sinn. Das gesamte Elbufer von den Landungsbrücken bis zum Altonaer Rathaus sollte nach den Plänen des Architekten Konstanty Gutschow völlig neugestaltet werden. Für die Umsetzung dieser gigantischen Planung war der komplette Abriss der „unordentlichen Haufen von Häusern“ an der Hafenkante St. Paulis vorgesehen. Der Beginn des Krieges 1939 vereitelte glücklicherweise die Realisierung dieses Großprojektes, die eine Verdrängung von Tausenden Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils zur Folge gehabt hätte. Von den schweren Bombenangriffen auf Hamburg in den folgenden Jahren blieb natürlich auch St. Pauli nicht verschont. Der überwiegende Teil der Wohngebäude wurde jedoch nur leicht oder gar nicht beschädigt, sodass auch das heutige Bild des Stadtteils noch wesentlich von der Bebauung des späten 19. Jahrhunderts geprägt ist. Trotz des starken Bevölkerungsrückgangs – heute zählt St. Pauli nur noch rund 20.000 Einwohnerinnen und Einwohner – gilt das ehemalige Hafenarbeiterquartier immer noch als der am dichtesten besiedelte Stadtteil Hamburgs.

Text von Christiane Jungblut und Gunhild Ohl-Hinz aus ihrem Buch: Stolpersteine in Hamburg-St. Pauli. Biographische Spurensuche. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg und dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden.  Hamburg 2009.