Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Emil Kraepelin

(15.2.1856 Neustrelitz – 7.10.1926 München)
Psychiater
Von 1938 bis Juli 2024: Kraepelinweg in Barmbek-Süd


Emil Kraepelin wurde deshalb in diese Datenbank aufgenommen, weil nach ihm 1938 in Hamburg eine Straße benannt wurde. Sie wurde im Juli 2024 umbenannt.

Der Kraepelinweg hieß vor der Zeit des Nationalsozialismus Juliusweg, benannt nach dem jüdischen Hamburger Arzt Dr. Nikolaus Julius (3.10.1783 Altona - 20.8.1862 Hamburg). Er wurde durch die Juliusstiftung bekannt und setzte sich dafür ein, dass eine „Irrenanstalt“ in Hamburg errichtet wurde. Eine Rückbenennung nach der Befreiung vom Nationalsozialismus erfolgte nicht. Auch wurde in Hamburg in keinem anderen Stadtteil eine Straße nach Julius benannt. Erst im Juli 2024 erfolgte die Rückbenennung, und zwar in Nicolaus-Heinrich-Julius-Weg. Damit wurde der Straßenname Kraepelinweg gelöscht.

Im September 2020 hatte die Behörde für Kultur und Medien eine Kommission aus acht Expertinnen und Experten einberufen, die Entscheidungskriterien für den Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg entwickeln und Empfehlungen zu möglichen Umbenennungen aussprechen sollte. Dabei nahm die Kommission auch Straßenbenennungen- und Umbenennungen in den Blick, die zwischen 1933 und 1945 vorgenommen wurden. Dies betrifft insbesondere Straßen, die seinerzeit umbenannt wurden, weil ihre Namensgeber Juden waren oder nach der rassistischen NS-Ideologie als Juden galten, oder die aus politischen oder anderen Gründen verfolgt wurden und deren Namen aus dem Straßenbild entfernt werden sollten. Die Kommission empfahl im März 2022 für den Kraepelinweg: „Durch seine Rassetheorien war Kraepelin ein Wegbereiter der NS-Ideologie im Bereich der Psychiatrie. Die nach ihm benannte Straße wurde 1938 im Rahmen der Umbenennung von nach Menschen jüdischer Herkunft benannten Straßen von Juliusweg in Kraepelinweg umbenannt. Dabei wählten die Nationalsozialisten bewusst Kraepelin für eine Benennung aus. Die Kommission empfiehlt die Umbenennung des heutigen Kraepelinwegs und damit Rückbenennung nach dem Arzt Nikolaus Heinrich Julius.“ (Abschlussbericht der Kommission zum Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg, Feb. 2022, www.hamburg.de/contentblob/15965308/8ee2e6d28dbd23e8df84bf75ceabda98/data/empfehlungen-kommission-ns-belastete-strassennamen.pdf)

Zu: Emil Kraepelin
Ernst Klee äußerte in seinem Buch „Das Personenlexikon zum Dritten Reich“ über Kraepelin: „Kraepelins Grundthese war, daß Geisteskrankheiten auf Vererbung und Degeneration (‚Entartung‘) beruhen und die Rasse bedrohen. (…). ‚Eine der schönsten Blüten unserer Gesinnung, die Menschenliebe, hat die häßliche Schattenseite, daß ihre Hilfe die Untauglichen und Bresthaften, insbesondere auch die geistig Minderwertigen und Kranken, an Leben erhält.‘“ 1) 

Kraepelin behauptete schon früh, Zusammenhänge zwischen Jüdisch sein und bestimmten psychischen Erkrankungen erkennen zu können. Kraepelin veröffentlicht 1908 seine Gedanken in der Ausarbeitung „Zur Entartungsfrage“. 

Der Historiker Felix Sassmannshausen schreibt in seinem für das Land Berlin verfassten Dossier über Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin: „Kraepelin formulierte Ideen von einer spezifischen Nervösität von Juden.“2) Sassmannshausen gibt die Handlungsempfehlung für den Umgang mit diesem Straßennamen: „weitere Forschung. “ 3)

Über Kraepelins politische Gesinnung unterrichteten 2015 Burkhart Brückner und Julian Schwarz in ihrem Beitrag über Emil Kraepelin, erschienen im Biographischen Archiv der Psychiatrie. Hier heißt es: „Schon Kurt Kolle (…) wies in seiner biographischen Skizze auf Kraepelins ‚betont völkische‘ Einstellung hin. Michael Shepherd sprach 1995 von Kraepelins ‚zwei Gesichtern‘ als Naturwissenschaftler und politischer Reaktionär. Dazu erklären Engstrom, Burgmaier und Weber (…): ‚Kraepelins Sorge um die ‚psychische Volkshygiene‘ prägte auch seine Wissenschaft.‘ Kraepelin war wohl zunächst ein politischer Anhänger Bismarcks und für die Leipziger Zeit vermutet Steinberg (…) sozialdemokratische Neigungen. Nach 1900 beschäftigte Kraepelin sich zunehmend mit bevölkerungspolitischen Fragen. In einem Vortrag über Die psychiatrischen Aufgaben des Staates (1900, S. 17) billigte er den psychiatrischen Anstalten – (…) eugenische Zwecke zu, da sie ‚zahlreiche Kranke an der Fortpflanzung ihrer bedenklichen Eigenschaften‘ hindern würden. Und in seinem Lehrbuch warnte er 1909 vor ‚ernsthaften Gefahren für unsere Rasse‘ angesichts der steten ‚Züchtung‘ von Menschen durch den ‚Kampf ums Dasein‘ in der urbanen Industriegesellschaft, ‚wenn die Wirkungen dieser Umstände, woran nicht zu zweifeln ist, sich in vererbbaren Eigenschaften weiter Volkskreise niederschlagen‘ (S. 198 ff.; vgl. dazu Hoff 2008). Trotz dieser Aussagen hat Kraepelin sich in seinem wissenschaftlichen Werk vergleichsweise zurückhaltend zu eugenischen Fragen geäußert (…).
 
Im Lauf des ersten Weltkriegs radikalisierte Kraepelin sich politisch. Vermutlich stand er unter dem Eindruck der enormen Verluste an deutschen Soldaten und entsprechend völkischer Ängste. So beteiligte er sich 1916 im Umfeld alldeutscher Honoratioren leitend am ‚Volksausschuß für die rasche Niederkämpfung Englands‘ und gehörte 1917 dem Vorstand des bayerischen Landesverbands der rechtsextremen Deutschen Vaterlandspartei an (DVLP; …). Die DVLP, (…), forderte einen Kanzlersturz samt Siegfrieden und weitreichende Gebietsannexionen. Ihre Ziele gingen Kraepelin (…) indes nicht weit genug, er zog sich nach der Auflösung der Partei Ende 1918 enttäuscht aus der Politik zurück.
 
1919 wurden an seiner Klinik mehrere inhaftierte Anführer der Münchner Räterepublik begutachtet. Einem von ihnen, dem Schriftsteller Ernst Toller, hatte Kraepelin bereits nach den Münchner Januarstreiks im Juli 1918 ‚Psychopathie‘ samt Schuldfähigkeit attestiert (…). 1919 wurde Toller von Ernst Rüdin begutachtet, dem von Kraepelin gezielt geförderten, späteren Theoretiker der NS-Rassenhygiene, der ab 1907 an der Münchener Klinik war und 1918 Abteilungsleiter an der Forschungsanstalt wurde.“ 4)

Dorothea Buck, die die Psychiatrie in Bethel am eigenen Leib und Seele miterlebt hatte, und nach der 2022 in Hamburg Farmsen die Dorothea-Buck-Straße sowie in Hamburg Schnelsen der Dorothea-Buck-Park benannt wurden, äußerte sich ebenfalls kritisch über Emil Kraepelin. So berichtete sie in ihrer 2007 gehaltenen Rede auf dem Kongress “Coercive Treatment in Psychiatry“: „Vor 71 Jahren – 1936 – machte ich mit gerade 19 Jahren die menschenverachtendste Erfahrung meines Lebens in der Psychiatrie, (…). Ich erlebte die Psychiatrie deshalb als so unmenschlich, weil nicht mit uns gesprochen wurde. Tiefer kann ein Mensch nicht entwertet werden, als ihn keines Gesprächs für wert oder fähig zu halten (…).Auf der hellgrünen Wand meinem Bett gegenüberstand in großer Schrift das Jesuswort ‚Kommet her zu mir, Alle, die Ihr mühselig und beladen seid. Ich will Euch erquicken‘. Und womit wurden wir erquickt? Mit Kaltwasserkopfgüssen, mit Dauerbädern unter einer über die Wanne gespannten Segeltuchplane, in deren steifem Stehkragen mein Hals 23 Stunden – von einer Visite zur nächsten – eingeschlossen war, mit den ‚nassen Packungen‘ und mit Paraldehyd-Betäubungsspritzen. Bei der ‚nassen Packung‘ wurde man in kalte, nasse Tücher so fest eingebunden, dass man sich nicht mehr bewegen konnte. Die Tücher wurden durch die Körperwärme warm, dann heiß. Ich schrie vor Empörung über diese unsinnige Fesselung in den heißen Tüchern. Ich fand es unglaublich, dass die selbstverständliche Hilfe durch Gespräche und Beschäftigung durch diese quälenden ‚Beruhigungsmaßnahmen‘ ersetzt wurden. Denn natürlich wurden wir ohne eine Beschäftigung und Abwechslung, ohne ein einziges Gespräch, nicht einmal ein Aufnahmegespräch, nur in den Betten liegend, obwohl wir körperlich gesund waren, unruhig. (…). Es waren die Methoden von Emil Kraepelin, der von 1856 bis 1926 lebte, und unsere deutsche Psychiatrie bestimmte. Der Chefarzt unseres Betheler ‘Hauses für Nerven- und Gemütsleiden‘, wie es damals hieß, war einer seiner letzten Schüler gewesen. Emil Kraepelin hatte die Gespräche, die seine Vorgänger, wie Wilhelm Griesinger von 1817 bis 1868 und Carl Wilhelm Ideler von 1795 bis 1860 noch mit ihren Patienten geführt hatten, durch die gesprächslose Beobachtung von Symptomen ersetzt, durch die ‚Krankheitsbilder- oder ‚Nosologische‘ Psychiatrie. Darum konnte er seine Patientinnen und Patienten auch nicht mehr als Mitmenschen erkennen, wie es nur durch Gespräche möglich ist. Die beobachteten Symptome traten an die Stelle des Menschen mit seinen Erfahrungen. Kraepelin forderte (Zitat): ‚Ein rücksichtsloses Eingreifen gegen die erbliche Minderwertigkeit, das 'Unschädlichmachen' der psychopathisch Entarteten mit Einschluss der Sterilisierung‘.“ 5) 

Emil Wilhelm Georg Magnus Kraepelin wurde als Sohn von Emilie Kraepelin, geb. Lehmann und dem Musiklehrer und Hofschauspieler Karl Kraepelin geboren. Dieser soll oft abwesend gewesen sein und Alkoholprobleme gehabt haben. Nach der Trennung seiner Eltern 1870 wuchs Emil Kraepelin bei seiner Mutter auf. Zwischen 1874 und 1878 studierte Kraepelin Medizin und schloss sein Studium in der „Irrenabteilung“ des Würzburger Juliusspitals mit der Promotion ab. Danach arbeitete er als Stationsarzt in der Kreis-Irrenanstalt München, wechselte 1882 an die Leipziger Universitätsklinik und 1884 nach Leubus in die preußische Provinzial-Irrenanstalt, wo er eine Oberarztstelle erhielt, „was ihm die bereits länger geplante Heirat mit seiner sieben Jahre älteren Jugendfreundin Ina Schwabe [1855-1944] ermöglichte. Aus der Ehe gingen acht Kinder hervor, vier davon starben noch als Säuglinge. Seine Tochter Ina arbeitete später als Ärztin an der Münchner Klinik ihres Vaters.“ 6) 
1885 wechselte er für ein Jahr in die „Irrenabteilung“ des Stadtkrankenhauses Dresden; 1886 erhielt er einen Ruf auf das Ordinariat für Psychiatrie der Universität Dorpat; 1891 bekam er „das Ordinariat an der Heidelberger Universität, strukturierte die Klinik um und richtete mit Mitarbeitern (…) ein psychologisches Labor sowie klinische Wachsäle zur Forschung ein. Grundsätzlich verwarf er einheitspsychotische oder hirnpathologische Ansätze, nahm jedoch somatisch fundierte ‚Krankheitseinheiten‘ an, um seine neue ‚Formenlehre‘ theoretisch zu fundieren. (…). 1903 wechselte Kraepelin an die Münchner Klinik, u. a. weil er dort bessere Bedingungen für den Aufbau größerer Anstalten sah. (…). 
 
Ab 1912 plante er ein größeres Forschungsinstitut, sammelte dafür Spenden von Unternehmern und Bankiers (…), und gründete 1917 die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie im Verbund mit der Klinik (ab 1924 Kaiser-Wilhelm-Institut; heute Max-Planck Institut für Psychiatrie). Kraepelin wurde 1922 emeritiert und starb 1926 im Alter von 71 Jahren an einer Grippe-Pneumonie in München. (…).“ 7)
Helmut Siefert schreibt in der Neuen Deutschen Biographie über Kraepelins Forschungen: „K., (…) versuchte eine

Pharmakopsychologie und experimentelle Psychopathologie zu begründen All dies hatte vor allem praktische Auswirkungen, so in K.s konsequentem, ja fanatischem Kampf gegen den Alkohol und in seinem Engagement für Schulpsychologie und -hygiene (zum Beispiel Überbürdungsfrage) und Arbeitsmedizin (zum Beispiel psychische Arbeitskurve, Ermüdungsexperimente, K.scher Rechenversuch, K.-Pauli-Test).

K.s Hauptinteresse galt der klinischen Psychiatrie. Aufbauend auf dem Studium des Krankheitsverlaufs vieler Patienten (…) bemühte sich K. um eine nicht nur die Symptomatik, sondern auch – soweit bekannt – die Krankheitsursachen berücksichtigende Systematik der Geisteskrankheiten. Zwei neue Krankheitsbezeichnungen wurden dabei entscheidend: die ‚Dementia praecox‘ (…) und das ‚manisch-depressive Irresein‘ (seit 1899) als grundlegende Psychoseformen. Insgesamt legte K. eine in ihrer Differenziertheit neuartige Klassifikation psychischer Krankheiten vor, die – trotz mancher, vor allem biologistischer Einseitigkeit –, richtungsweisend für die Psychiatrie des 20. Jahrhunderts wurde. Obwohl er in seinem System auch psychogene Erkrankungen berücksichtigte, stand K. (…) der Psychoanalyse ablehnend gegenüber.“ 8)

Und Burkhart Brückner und Julian Schwarz beschreiben Kraepelins Forschungen u. a. wie folgt: „Als Kraepelins Hauptleistung gilt die Neuordnung der psychiatrischen Klassifikationen. Bereits um 1890 hatte Paul Möbius vorgeschlagen, die Psychosen in die beiden Gruppen der ‚endogenen‘ (ohne somatische Ursache) und der ‚exogenen‘ (organisch begründbaren) Störungen aufzuteilen. Kraepelin erfasste 1899 in der sechsten Auflage des Lehrbuchs auch ‚psychogene‘ Störungen und skizzierte in einem Vortrag erstmals sein Konzept der ‚Dementia praecox‘ (‚vorzeitige Demenz‘). Mit diesem Begriff wollte er chronische Verläufe fassen, die mit einem verfrühten kognitiven Abbau sowie Störungen von Wahrnehmung, Denken, Aufmerksamkeit und Willen einhergingen. (…). Kraepelin führte 1899 zudem das Modell der ‚manisch-depressiven‘ Störungen mit günstiger Prognose ein. Gleichzeitig beschränkte er den Begriff der ‚Paranoia‘ von vormals über fünfzig Prozent auf drei bis vier Prozent aller klinischen Fälle (1904, Bd. II, S. 595 f.). Diese Abgrenzungen gelten als nosologisch bahnbrechend – insbesondere die kategoriale Trennung zwischen den, in heutiger Terminologie, ‚schizophrenen‘ und ‚bipolaren‘ Störungen. In der achten Auflage des Lehrbuchs (1913, Bd. III, S. 667 ff.) ordnete er die ‚Dementia praecox‘ samt den ‚paranoiden‘ Störungen und der mild verlaufenden psychotischen ‚Paraphrenie‘ den ‚endogenen Verblödungen‘ zu. (…) Kraepelin gilt heute als der wichtigste Wegbereiter der naturwissenschaftlich, nomothetisch und medizinisch ausgerichteten klinischen Psychiatrie im 20. Jahrhundert.“ 9)

Helmut Siefert behauptet: „K. bemühte sich um einen humanen Umgang mit den Geisteskranken und um neuartige Therapieformen; er führte das Dauerbad in die Behandlung von Unruhezuständen ein.“ 10) Siehe dazu weiter oben die Ausführungen der von diesen Methoden betroffenen Dorothea Buck.