Exkurs: Der Aufstieg der NSDAP in Harvestehude und Rotherbaum vor 1933
Zwischen 1928 und 1933, also in weniger als fünf Jahren, fanden im Deutschen Reich fünf Reichstagswahlen statt: die erste am 20. Mai 1928, d.h. im Jahr vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, die letzte am 5. März 1933, fünf Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Gegner der nationalsozialistischen Machtübernahme, vor allem Kommunisten, wurden bereits vor der letzten Wahl verhaftet oder waren geflüchtet. Trotzdem nahmen die Arbeiterparteien noch einmal an der Wahl teil, die als letzte nach dem Wahlrecht der Weimarer Republik durchgeführt wurde und auch die letzte war, bei der deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens noch wählen konnten. Die Ergebnisse dieser Reichstagswahlen spiegeln den Niedergang der Weimarer Parteien ebenso wie den Aufstieg der NSDAP in Deutschland.
Wie stimmten die Wählerinnen und Wähler in den Hamburger Stadtteilen Rotherbaum und Harvestehude ab? Hier lebten die Menschen, über die dieser Band berichtet, vor ihrer Deportation und Ermordung. Beiden Stadtteilen gemeinsam war, dass sie vor 1933 das Zentrum jüdischen Lebens in Hamburg bildeten. Zwar stellten die jüdischen Einwohner auch hier eine Minderheit dar, doch eine deutlich größere als im übrigen Hamburg: verglichen mit anderen Stadtteilen stellten hier die Hamburger Jüdinnen und Juden 12 bis 13 Prozent der Wahlberechtigten (von allen Wahlberechtigten in Hamburg waren nur etwa 1,5 Prozent jüdisch).
Die Darstellung der Wahlergebnisse beruht auf den Berichten des Statistischen Landesamts zu den Reichstagswahlen 1928 bis 1933. Die Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse in Harvestehude und Rotherbaum, Tabelle 2 die der Stadt Hamburg insgesamt. Beide sind in gewisser Weise unvollständig, denn sie vernachlässigen kleinere Parteien, mit einem zudem sinkenden Stimmenanteil. (Für die Berechnung der einzelnen Werte der Tabellen auf der Basis der amtlichen Statistik trägt allein der Verfasser die Verantwortung.) Dargestellt werden die jeweiligen Stimmenanteile der NSDAP und – parallel dazu – die der anderen Parteien. Die Programme und die tatsächliche Politik der dargestellten Parteien bleiben dabei ausgeklammert. Zwei Hinweise sind allerdings zum Verständnis der Tabellen nötig:
– die liberale „Deutsche Demokratische Partei“, die DDP (Spalte 5), schloss sich 1930 mit der, nach damaligem Verständnis, gemäßigt antisemitischen, „Volksnationalen Reichsvereinigung“ zur „Deutschen Staatspartei“ (DStP) zusammen, was viele ihrer jüdischen Wähler – und nicht nur sie – zutiefst irritierte. Die DStP beteiligte sich an den Wahlen seit 1930;
– die antisemitische „Deutschnationale Volkspartei“, die DNVP (Spalte 7), ging noch im Februar 1933 ein Wahlbündnis mit dem „Stahlhelm“ ein, das unter dem Namen „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ an der Reichstagswahl am 5. März 1933 teilnahm. Nach der Wahl war sie der Koalitionspartner der NSDAP. Die auf die „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ am 5. März 1933 entfallenden Stimmen können daher schwerlich noch als Voten für eine demokratische bürgerliche Partei betrachtet werden.
Tabelle 1
1
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2
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3
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4
|
5
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6
|
7
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8
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am |
Wahlbeteiligung
|
KPD
|
SPD
|
DDP/ DStP
|
DVP
|
DNVP
|
NSDAP
|
20.5.1928 |
76,6
|
5,1
|
20,5
|
20,5
|
25
|
16,6
|
3,6
|
14.9.1930 |
82,3
|
5,8
|
19,2
|
15,9
|
16,5
|
6,3
|
23,8
|
31.7.1932 |
84
|
6,1
|
20,6
|
11,4
|
3,7
|
10,6
|
42,2
|
6.11.1932 |
84,2
|
7,8
|
18,9
|
10
|
6,8
|
17,8
|
33,4
|
5.3.1933 |
89,3
|
6,1
|
17
|
7,4
|
4,8
|
14,6
|
45,5
|
1. Ein Vergleich der Spalten 8 beider Tabellen zeigt, dass der Stimmenanteil der NSDAP in Harvestehude und Rotherbaum zwischen 1928 und 1933 nicht – wie das Bild vom „Jüdischen Hamburg“ vermuten ließe – niedriger lag als in Hamburg insgesamt. Im Gegenteil stiegen die Stimmen für die NSDAP in Harvestehude und Rotherbaum deutlich höher an als in der Stadt Hamburg insgesamt. Da die Zahlen beider Stadtteile zusammengefasst sind, zeigt die Tabelle nicht, dass der Stimmen-Anteil der NSDAP in Rotherbaum bei allen fünf Reichstagswahlen (um bis zu 5 Prozent) über dem in Harvestehude lag.
Die Wahlergebnisse der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 spiegelten noch einmal die Mehrheitsverhältnisse der Weimarer Demokratie vor deren Zerstörung. Sie ließen (wohl nicht nur die jüdische Bevölkerung) hoffen, dass die NSDAP eine Splitterpartei bleiben und sich auf Dauer nicht würde halten können. Die schockierenden Wahlsiege der NSDAP bei den folgenden Reichstagswahlen machten diese Hoffnung zunichte.
2. Beide Tabellen zeigen, dass die Stimmenverluste der anderen Parteien zwischen 1928 und 1933 – parallel zu den Stimmengewinnen der NSDAP – in erster Linie Verluste der traditionellen bürgerlichen Parteien waren. Der Stimmenanteil der liberalen „Deutschen Demokratische Partei“ (DDP, Sp. 5), der konservativen „Deutschen Volks Partei“ (DVP, Sp. 6) und der antisemitischen „Deutsch Nationalen Volkspartei“ (DNVP, Sp. 7) sank – zusammengefasst – in Harvestehude/Rotherbaum ebenso wie in Hamburg insgesamt bis 1933 auf weniger als ein Fünftel ihres Anteils vom Mai 1928: d.h. in Harvestehude und Rotherbaum von etwa 62 auf 12 Prozent, in Hamburg insgesamt von 37,6 auf 6 Prozent. (Die Stimmen für die „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ am 5. März 1933 sind hier jeweils nicht mitgezählt.) Zu den Wahlerfolgen der NSDAP haben dabei sicher auch die Stimmen bisheriger Nicht-Wähler beigetragen. Der Anstieg der Wahlbeteiligung (Sp. 2) um etwa 13 Prozent in Harvestehude/Rotherbaum und um 10 Prozent in Hamburg verweist darauf.
3. Der Vergleich beider Tabellen aber zeigt auch, dass allein die Stimmenverluste der bürgerlichen Parteien die Wahlerfolge der NSDAP in Harvestehude und -Rotherbaum noch nicht erklären. Hinzu kam die traditionelle „Schwäche“ der Arbeiterparteien in beiden Stadtteilen. Schon 1928 stimmte nur ein Viertel, genau 25,6%, der Wählerinnen und Wähler beider Stadtteile für die SPD und die KPD zusammen. In Hamburg insgesamt war der Stimmenanteil beider Par-teien bei dieser Wahl, mit mehr als 54% der Stimmen, mehr als doppelt so groß. Grund für die „Schwäche“ beider Parteien in Rotherbaum und Harvestehude war wohl auch der vergleichsweise niedrige Arbeiteranteil unter den Wählerinnen und Wählern beider Stadtteile. So war das Stimmengewicht von SPD und KPD In Harvestehude und Rotherbaum zu klein um den Zusammenbruch der bürgerlichen Parteien zu kompensieren, den Aufstieg der NSDAP in beiden Stadtteilen auch nur abschwächen zu können. Auch die Tatsache, dass die Stimmenverluste besonders der SPD in Harvestehude und Rotherbaum zwischen 1928 und 1933 kleiner waren als in Hamburg insgesamt, änderte wenig an dieser „Schwäche“.
Zwar verlor die SPD in Hamburg von 1928 bis 1933 etwa ein Viertel ihrer Wählerinnen und Wähler, trotzdem blieben die SPD und die KPD, deren Stimmenanteil bis 1933 eher noch stieg, zusammen deutlich stärker als die NSDAP. Auch bei der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 erreichte die NSDAP in Hamburg keine Mehrheit der Wählerstimmen. Es waren die Wählerinnen und Wähler der SPD und der KPD, die bis 1933, trotz der Kämpfe beider Arbeiterparteien gegeneinander, einen noch größeren Wahlerfolg der NSDAP in Hamburg verhinderten.
4. Offen bleibt die Frage nach dem Wahlverhalten jüdischer Wählerinnen und Wähler in Harvestehude und Rotherbaum. Auf der Grundlage der Ergebnisse können wir diese Frage nur im Hinblick darauf beantworten, was sie vermutlich nicht gewählt haben. Sie haben, davon ist auszugehen, auch vor 1933 in aller Regel die NSDAP nicht gewählt. Das aber bedeutet, dass etwa 12 bis 13 Prozent der Wahlberechtigten – die jüdischen – in Harvestehude und Rotherbaum von vornherein als Wählerinnen und Wähler der NSDAP ausfielen. Entsprechend größer muss hier vor 1933 der Anteil der NSDAP-Wählerinnen und -Wähler unter den Nicht-juden gewesen sein. Er war, so ist anzunehmen, größer noch als der in der Tabelle angegebene. In direkter Nachbarschaft des ehemaligen „Jüdischen Hamburg“ erzielte die NSDAP vor 1933 unter den nichtjüdischen Wählerinnen und Wählern in Harvestehude und vor allem in Rotherbaum ihre größten Wahlerfolge in Hamburg.
Wir können nur Vermutungen anstellen, welchen Parteien jüdische Wählerinnen und Wähler vor 1933 ihre Stimme gaben. Eine Chance, die NSDAP aufzuhalten, hatten sie nicht. Möglich aber, dass sie dazu beigetragen haben, dass in Harvestehude und Rotherbaum die Stimmenverluste der SPD, der DStP und auch der DVP zumindest weniger groß waren als in Hamburg insgesamt.
Wie reagierten Hamburger Jüdinnen und Juden darüber hinaus auf ihre Bedrohung durch die nationalsozialistischen Wahlerfolge vor 1933? Eine Antwort auf diese Frage ist hier nur eingeschränkt möglich. Zwischen der Volkszählung vom 16. Juni 1925 und der vom 16. Juni 1933 sank die Zahl der Hamburger Jüdinnen und Juden um 2909, knapp 15 Prozent. Ihr Anteil an der Hamburger Bevölkerung sank damit von 1,83 auf 1,5 Prozent, noch stärker sank er in Harvestehude und Rotherbaum, von 15,5 auf 12,2 Prozent. Zum Rückgang der Zahl der Hamburger Juden – und das hieß: der Angehörigen der „Deutsch-Israelitischen Ge-meinde“ (DIG), denn allein sie erfasste noch die Volkszählung des Jahres 1933 als „Juden“ – trugen auch die bei, die in dieser Zeit aus der DIG austraten, ebenso trug dazu die niedrigere Kinderzahl jüdischer Familien bei. Vor allem aber trugen die Jüdinnen und Juden dazu bei, die bereits vor 1933 emigrierten oder in eine andere Stadt verzogen. Ein Grund dafür konnte zudem sein, dass Hamburg noch Jahre nach der Weltwirtschaftskrise als „Notstandsgebiet“ galt. Von denen, die Hamburg vor 1933 verließen bzw. aus der DIG austraten, stammten zwei Drittel aus Harvestehude und Rotherbaum.
Die meisten Hamburger Jüdinnen und Juden aber blieben, auch nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Sie hofften darauf, so ist anzunehmen, dass die nationalsozialistische Bedrohung vorübergehen werde. 1933 lebten in Hamburg, der Volkszählung des Jahres zufolge, 16885 Jüdinnen und Juden (nicht eingerechnet die Mitglieder der erst später, 1938, eingegliederten Gemeinden). Annähernd die Hälfte von ihnen, 7308 oder 43,3 Prozent, lebte in Harvestehude und Rotherbaum. Vor 1933 verließen vor allem Jüngere Hamburg. Die Folge war, dass 1933 der Anteil der über 60-Jährigen mit 18,2 Prozent bereits deutlich größer war als in der Hamburger Bevölkerung insgesamt, in der er 11,6 Prozent betrug.[1]
Text: Jost v. Maydell