Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Rothenburgsort


Rothenburgsort in der NS-Zeit

Bei der Volkszählung von 1933 bezeichneten sich 20% der Bevölkerung als kirchenfern, im Vergleich dazu waren es in Borgfelde nur 14%.

Zu der eingesessenen Bevölkerung gehörten einige Sinti und Sintizas („Zigeuner“) und wenige jüdische Personen. Sie lebten ein unauffällig kleinbürgerliches Leben, manche herausgehoben als Ärzte bzw. eine Ärztin, die dort arbeiteten, aber nicht alle vor Ort wohnten. Unter ihnen ragt der Arzt Carl Stamm hervor, dessen Lebenswerk, das über den Stadtteil hinaus bedeutende „Kinderkrankenhaus Rothenburgsort“, heute als „Institut für Hygiene und Umwelt“ der Freien und Hansestadt Hamburg genutzt wird. In diesem eng bebauten und dicht bevölkerten Stadtteil suchten auch viele Menschen aus wirtschaftlichen und politischen Gründen Zuflucht, die nur kurze Zeit dort gemeldet waren. Wie in anderen Arbeiterstadtteilen Hamburgs kam es auch in Rothenburgsort zu Zusammenstößen zwischen der SA und ihren Gegnern, häufig im Zusammenhang mit Aufmärschen im benachbarten Hammerbrook, wie die Zeitungsmeldung vom 3. März 1933 zeigt.

Schlagartig änderte sich die Atmosphäre in Rothenburgsort, als 1933 erst die Kommunistische und dann die Sozialdemokratische Partei verboten, ihre Mitglieder verhaftet und die Vereine „gleichgeschaltet“ wurden. Der politische Widerstand ging in der Illegalität weiter und forderte einen hohen Blutzoll. Mehrere Mitglieder der ab 1940 aktiven Jacob-Bästlein-Abshagen-Gruppe stammten aus Rothenburgsort oder lebten vorübergehend dort, wie Robert Abshagen, bevor er verhaftet wurde.

Aufmärsche der NSDAP und ihrer Parteiorganisationen stießen in Rothenburgsort auf nahezu geschlossene Ablehnung. Die Bevölkerung war überwiegend in den beiden Arbeiterparteien SPD und KPD verwurzelt. Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 erhielten diese beiden Parteien zusammen 72,9% der Stimmen (SPD: 40,4%, KPD 32,5%). In diesen letzten freien Wahlen entfielen in Rothenburgsort auf die NSDAP 14,4%, nur etwa halb so viel wie in Hamburg insgesamt (27,2%). Trotz aller Repressalien erreichten SPD und KPD bei der Reichstagswahl am 5. März 1933, der letzten, an der mehr als eine Partei teilnahm, zusammen 67,3% und damit mehr als zwei Drittel der gültigen Stimmen. Während der Stimmenanteil der NSDAP im Reichsdurchschnitt bei 43,9% lag, betrug er in Rothenburgsort 22,9%. In Rothenburgsort fassten die Nationalsozialisten auch in den Folgejahren kaum Fuß, wie aus den Ankündigungen der „Gaunachrichten“ hervorgeht. Aber selbstverständlich spannte die NSDAP ihr Organisationsnetz mit Blockwarten, Ortsgruppenleitern und einem Kreisleiter auch über diesen Stadtteil, und die meisten Einwohnerinnen und Einwohner arrangierten sich mit deren Herrschaft. Im März 1935 rückte Rothenburgsort in den Mittelpunkt der Boxwelt. Innerhalb von 42 Tagen gelang es dem Box-Promoter Walter Rotenburg, eine alte Lagerhalle für Nutzhölzer von 175 m Länge und 65 m Breite an der Ecke Zollvereinsstraße/Ausschläger Elbdeich in eine Halle mit Plätzen für 25.000 Zuschauer ausbauen zu lassen, die Hanseatenhalle. Dort besiegte Max Schmeling am 10. März im Schwergewicht den US-Amerikaner Steve Hamas durch technisches K.o. Die Halle diente danach anderen sportlichen Großereignissen und Massenkundgebungen wie dem Auftritt von Julius Streicher am 30. August 1935 vor 20.000 zur Teilnahme verpflichteten Frauen und Männern, auf die trotz sorgfältig im Saal verteilter Claqueure kein Funke übersprang, wie sozialdemokratische Beobachter mit Genugtuung feststellten. Im Vorfeld hatte es antisemitische Aktionen gegeben, so notierte der jüdische Hamburger Anwalt Kurt Rosenberg am 17. Mai 1935: „In Rothenburgsort haben sich antisemitische Sprechchöre gebildet und jüdische Ladeninhaber bedrängt.“

 Rothenburgsort wurde in der Nacht des 27./28. Juli 1943 fast vollständig durch die Luftangriffe zerstört. Eine große Zahl der Bewohner und Bewohnerinnen – Schätzungen gehen von 4000 aus – verlor ihr Leben, fast alle anderen ihr Zuhause; ein einziger Wohnblock, aber auch der Wasserturm, blieben unversehrt stehen. Überlebende richteten Keller und Ruinen als Unterkünfte her, die Krankenschwestern sorgten dafür, dass die bombensicheren Teile der Klinik Anfang 1944 wieder benutzt werden konnten. Bei Kriegsende betrug die Bevölkerungszahl 7.000 Personen gegenüber 5.3000 im Jahr 1933.

Im Kinderkrankenhaus bestand während des Krieges eine so genannte Kinder­achabteilung, in der im Rahmen des „Reichsausschussverfahrens“ Säuglinge und Kleinkinder mit Behinderungen ermordet wurden, das letzte von mehr als 50 am 5. April 1945. In der ausgebrannten Volksschule am Bullenhuser Damm richtete die SS im Herbst 1944 eine Außenstelle des KZ Neuengamme ein. Nach der Überführung der Häftlinge in das Stammlager Neuengamme und dem Abtransport der skandinavischen Häftlinge in der Aktion „Weiße Busse“ durch das Rote Kreuz stand das Gebäude ab 11. April 1945 leer. Am 20. April 1945 wurden dort 20 Kinder, ihre vier Ärzte und Pfleger sowie wahrscheinlich 24 sowjetische Häftlinge ermordet. So besteht die größte Gruppe der NS-Opfer in Rothenburgsort aus ortsfremden Kindern.

Text von Hildegard Thevs, entnommen ihrem Buch: Stolpersteine in Hamburg-Rothenburgsort. Biographische Spurensuche. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg und dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Hamburg 2011.