Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Otto Sill

(10.9.1906 Calw – 1.3.1984 Hamburg)
Ingenieur, Verkehrs- und Stadtplaner, Oberbaudirektor
Eppendorfer Landstraße (Wohnadresse Hausnummer unleserlich, 1943)
Otto-Sill-Brücke (1988 benannt in Hamburg-Altstadt)
Fuhlsbüttler Straße 756, bestattet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Prominentenliste, Grab: Q 6, 7-8


Otto Sill wurde 1906 als Sohn eines Kaufmanns im württembergischen Calw geboren.[1] Von 1913 bis 1915 besuchte er die Volksschule im hessischen Walldorf, von 1915 bis 1922 die Realschule in Groß-Gerau. Von Oktober 1922 bis Mai 1924 arbeitete er als Praktikant bei der Maschinenfabrik Moenus AG in Frankfurt am Main und bereitete sich in Abendkursen auf das Abitur vor, das er im September 1924 bestand. In den Jahren 1924 bis 1931 studierte er an der Technischen Hochschule Darmstadt Bauingenieurwesen und erlangte den Titel eines Diplom-Ingenieurs. Seit 1931 bis zum Mai 1934 arbeitete Sill als Regierungsbauführer im hessischen Staatsdienst u.a. an Projekten des Brücken- und Autobahnbaus.[2] Laut eigenen Angaben gehörte Sill vor 1933 keiner politischen Partei an.[3]

Laut der NSDAP-Gaukartei trat Otto Sill zum 1. Mai 1933 mit der Mitgliedsnummer 2.175.180 in die NSDAP ein.[4] In seiner Entnazifizierung gab Sill zudem an, seit April 1935 Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), seit Dezember 1936 in der Deutschen Arbeitsfront (DAF), seit Januar 1938 im NS-Altherrenbund und seit April 1941 im Reichsbund der deutschen Beamten gewesen zu sein. Ämter habe er in keiner der Organisationen bekleidet.[5] Laut einer zeitgenössischen Quelle war Sill zudem seit dem 31. März 1934 im Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK).[6]

Im Dezember 1934 bestand Otto Sill die Staatsprüfung für das Wasser- und Straßenbaufach und wurde im März 1935 vom Land Hessen zum Regierungsbaumeister ernannt.[7] Bereits zuvor hatte er sich bei der Obersten Bauleitung der Reichsautobahnen Halle (Saale) beworben und war vom September 1934 bis Februar 1936 von Erfurt aus mit Entwürfen und der Bauleitung für Autobahnbrücken beschäftigt. Im März 1936 wechselte er zur Obersten Straßenverwaltung nach Königsberg in Ostpreußen und leitete dort das Technische Büro.[8]

Von März 1938 bis Ende Dezember 1941 arbeitete er für das Technische Landesamt in Ludwigsburg – zunächst als Leiter einer Neubauabteilung für größere Straßen- und Flussbauarbeiten, seit April 1939 dann im Straßenbau im Protektorat Böhmen und Mähren (der vom Deutschen Reich besetzten Tschechoslowakei). Im November 1939 wurde er in die Hauptabteilung Bauwesen der Regierung des Generalgouvernements in Krakau abgeordnet, wo er sich am Aufbau der Zentrale beteiligte und das „Kraftfahrwesen“ organisierte.[9] Laut Einschätzung des Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen bewährte er sich dort „sehr gut“.[10]

Im Februar 1941 wurde Sill zum Baurat ernannt und erhielt die Aufgabe, die Einsatzgruppe II der Organisation Todt aufzubauen. Beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion war Sill Stabsleiter dieser Einsatzgruppe.[11] Im Mai 1941 stellte er einen Antrag auf Entlassung aus den Diensten des Technischen Landesamtes, den er damit begründete, dass die Arbeitsbedingungen vor allem 1939/40 „derart ungünstig“ gewesen seien, dass er sich bereits im März 1940 zum Ausscheiden entschlossen habe: „Ich war mir jedoch im klaren, daß während des Krieges von jedem mit Recht verlangt wird, daß die ihm zugewiesenen Aufgaben unbedingt erfüllt werden müssen“.[12] Welche Umstände es waren, die Sill als so „ungünstig“ empfand, bleibt in den in seinem Nachlass erhaltenen Dokumenten offen.

Zum 1. Januar 1942 wechselte Otto Sill – „auf eigenen Wunsch“, wie es im Zeugnis des Technischen Landesamtes Ludwigsburg hieß – nach Hamburg, wo er als Baurat in der Abteilung Stadtentwässerung des Tiefbauamts zu arbeiten begann.[13] Bis Mai 1943 war er als Abschnittsleiter für den Bau von Luftschutzbunkern zuständig, dafür war er vom Kriegsdienst befreit.[14] Am 10. Mai wurde er zum Wehrdienst einberufen, den er bei einer motorisierten Luftschutzabteilung der Luftwaffe leistete, u.a. im schwäbischen Gablingen.[15] Seit November 1944 hatte er den Dienstrang eines Unteroffiziers.[16] Gegen Kriegsende wurde er zu einer Fallschirmjäger-Division versetzt. Am 25. April 1945 geriet er – „nach kurzem Kampfeinsatz“, wie er in seinem Lebenslauf schreibt – in britische Kriegsgefangenschaft, in der er bis zum 16. September verblieb.[17]

Im September 1945 füllte Otto Sill einen Entnazifizierungsfragebogen aus, in dem er behauptete, seit Mai 1933 zunächst Parteianwärter und erst seit November 1937 „Pg.“ gewesen zu sein.[18] Im Oktober 1946 fand eine Vernehmung Sills statt. Im Mai 1949 wurde ihm bestätigt, „als entlastet in die Kategorie V eingestuft worden“ zu sein.[19] 1954 hatte Sill einen kurzen Briefwechsel mit seinem früheren Kompanieführer aus der Kriegszeit. Dabei sprach er die Hoffnung aus, dass dieser „die Wirren der letzten Kriegsmonate“ gut überstanden habe und lobte ihn dafür, „die technischen Fragen in Ihrer Kompanie in den Vordergrund“ gestellt zu haben.[20]

Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im September 1945 wurde Sill wieder in der Bauverwaltung beschäftigt – zunächst mit der Aufbauplanung hinsichtlich von Verkehrsanlagen. Von Ende 1947 bis November 1951 war er Leiter der Hauptabteilung Verkehrsanlagen, seit Juli 1949 als Oberbaurat.[21] Der Generalverkehrsplan für Hamburg von 1947, der zum Aufbauplan erweitert wurde, ging auf Sill zurück.[22] 1951/52 leitete er kommissarisch das Landesplanungsamt Hamburg. Von Dezember 1951 bis März 1964 war Sill Leiter des Tiefbauamtes, seit 1952 als Baudirektor und seit 1953 als Erster Baudirektor. 1956 wurde er von der Technischen Hochschule Braunschweig zum Honorarprofessor für Straßenverkehr und Straßenverkehrstechnik ernannt. 1964 wurde er zum Oberbaudirektor ernannt.[23] Aus Sicht des Architekturhistorikers Ralf Lange war Sills Ernennung Ausdruck der Durchsetzung der „Technokraten“ beim Hamburger Wiederaufbau und der Orientierung auf das Leitbild der „autogerechten Stadt“.[24] Priorität bekam beispielsweise nun der massive Bau von Parkflächen. Maßgeblich beteiligt war Sill auch am Bau neuer Straßenführungen und U- und S-Bahn-Linien, am Bau des Hauptklärwerks Köhlbrandhöft und der Erschließung neuer Wohn- und Gewerbeflächen. Im September 1971 wurde Sill pensioniert.[25]

 

Otto Sill war Mitglied in zahlreichen Gesellschaften und Vereinen, etwa dem Architekten- und Ingenieur-Verein Hamburg (seit 1946), der Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen (seit 1948, seit 1955 im Vorstand), der Deutschen Verkehrs-Wissenschaftlichen Gesellschaft (seit 1959) oder der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (seit 1949). 1968 wurde er vom Bundesverkehrsminister in dessen Wissenschaftlichen Beirat (Gruppe Ver-kehrstechnik) berufen.[26] Sill trat neben seiner Tätigkeit in der Hamburger Verwaltung auch mit wissenschaftlichen Vorträgen und zahlreichen Publikationen hervor.[27] In den 1960er Jahren galt er der FAZ als „Verkehrsfachmann“ mit einem „internationalen Ruf“.[28] 1976 nannte ihn das Hamburger Abendblatt den „Vater des Elbtunnels“.[29] 1984 starb Otto Sill. Vier Jahre später benannte die Stadt Hamburg eine neue Brücke am Baumwall nach dem früheren Oberbaudirektor und ehrte ihn zusätzlich mit einer Bronzetafel.[30]

Text: David Templin