Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Friedrich Bergius

(11.10.1884 Goldschmieden – 29.3.1949 Buenos Aires)
Chemiker, Unternehmer
(wohnte und wirkte nicht in Hamburg)
Namensgeber für Bergiusstraße, Ottensen (1950)


Als Sohn eines Fabrikanten wurde Friedrich Bergius 1884 in Goldschmieden bei Breslau geboren.[1] Nachdem er 1903 das Realgymnasium in Breslau abgeschlossen hatte, arbeitete er in einem Hüttenwerk in Mülheim an der Ruhr. Von 1903 bis 1907 studierte er Chemie an den Universitäten in Breslau und Leipzig, wo er 1907 mit einer Arbeit über Schwefelsäure promoviert wurde. In den folgenden Jahren arbeitete er wissenschaftlich an Instituten in Berlin, Karlsruhe und Hannover, 1912 folgte die Habilitation.[2]
1913 gab Bergius die Lehrtätigkeit als Privatdozent auf und setzte seine Forschungen jenseits der Universität fort. Im selben Jahr meldete er ein Patent auf seine Entdeckung eines Verfahrens zur Kohleverflüssigung an. Als Leiter der Forschungslaboratorien trat er 1914 in die Th. Goldschmidt AG in Essen ein, zwei Jahre später wurde eine große Versuchsstation zur industriellen Umsetzung der Kohleverflüssigung in Mannheim-Rheinau eingerichtet. 1916 wurde Bergius auch stellvertretendes Vorstandsmitglied der Firma. Im Juli 1918 wechselte Bergius als Generaldirektor zur EVAG (Erdöl- und Kohleverwertung AG) – eine Position, die er bis 1924 ausübte. 1920 wurde er Generaldirektor des neu gebildeten Konsortiums Deutsche Bergin AG für Kohle und Erdölchemie in Heidelberg, wo er in den folgenden Jahren auch lebte. Bergius wurde Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften, darunter auch der Deutschen Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums in München. Mitte der 1920er Jahre verkaufte er seine Patente zur Kohleverflüssigung für rund 1 Million RM an die IG Farben, die das „Bergius-Verfahren“ weiterentwickelte und in den Leuna-Werken mit der industriellen Umwandlung von Kohle in Benzin begann.[3]
Parallel zur praktischen Umsetzung seines Verfahrens zur Kohleverflüssigung hatte Bergius zur Umwandlung von Holz in Kohlehydratefuttermittel geforscht. 1927 richtete er eine entsprechende Versuchsanlage ein, ein Jahr später wurde er Vorsitzender des Aufsichtsrats der Holzhydrolyse AG. In der Wirtschaftskrise geriet das Unternehmen jedoch in finanzielle Schwierigkeiten. 1931 erhielt Bergius zusammen mit Carl Bosch (IG Farben) den Nobelpreis für Chemie. Im selben Jahr wurde er zum Ehrendoktor der Universität Hannover ernannt – ein Titel, dem ihm 1927 bereits die Universität Heidelberg verliehen hatte.[4]
Mitglied der NSDAP wurde Friedrich Bergius nicht, zumindest findet sich in der NSDAP-Mitgliederkartei kein Hinweis darauf.[5] Er trat jedoch öffentlich für das neue Regime ein. Vor der Volksabstimmung über die Zusammenlegung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten am 19. August 1934 warb Bergius in der Öffentlichkeit für ein „Ja“ und ließ sich in der NS-Presse mit der Erklärung zitieren, die „moralischen und geistigen Kräfte“ des deutschen Volkes könnten „nur zur Auswirkung kommen unter der einheitlichen starken Führung durch einen Mann, an den jeder glaubt: Adolf Hitler“.[6] In Vorträgen, u.a. bei der vom NSDAP-Gau Hamburg (Amt für Technik) veranstalteten „Gautagung der Techniker“ im Oktober 1937, stellte Bergius seine Erfindung der Kohleverflüssigung in den Kontext nationalsozialistischer Autarkiepolitik. Sie sichere die nationale Rohstoffversorgung auch im Falle einer ausländischen Blockade und mache das Deutsche Reich vom „Monopol der erdölreichen Länder“ unabhängig.[7]
Das NS-Regime nutzte und förderte Bergius´ Verfahren im Sinne ihrer Autarkiebestrebungen. Im Herbst 1934 konnte eine Holzhydrolyse-Anlage in Mannheim-Rheinau durch eine Reichsbürgschaft in Höhe von 2 Millionen RM ausgebaut werden.[8] Im April 1935 überreichte Bergius für die Deutsche Bergin AG Hermann Göring eine Marzipantorte, die unter Verwendung von Holzzucker hergestellt worden war.[9] Das Holzverzuckerungsverfahren wurde 1936 in den Vierjahresplan zur Rohstoffsicherung mit aufgenommen, so dass eine Fortführung der Arbeiten gesichert war. In diesem Zusammenhang übertrug Bergius allerdings seine Aktien an der Deutschen Bergin AG der Rentenbank-Kreditanstalt, die sich damit die Mehrheitsanteile am Unternehmen sicherte. Um 1938 saß er jedoch im Aufsichtsrat, und bis 1942 wirkte er als Generaldirektor der Deutschen Bergin AG.[10] Damit hatte er, so das Hamburger Abendblatt 1949, „entscheidenden Anteil an der Autarkieplanung des Reiches“.[11] In Heidelberg stellte ihm die NS-Regierung ein Laboratorium zur Verfügung, in dem er sich mit der Perfektionierung der Holzhydrolyse beschäftigen konnte. Im Zweiten Weltkrieg wurde Bergius´ Forschungsbetrieb in die „Forschungs- und Verwertungs-GmbH“ der DAF eingegliedert.[12]
In der nationalsozialistisch gleichgeschalteten Presse wurde „der deutsche Chemiker“ Bergius mehrfach für seine Erfindungen gelobt, u.a. zu seinem 60. Geburtstag 1944. Die Rheinisch-Westfälische Nationalzeitung etwa lobte ihn unter dem Titel „Ein Deutscher gegen die Weltmacht Oel“ als Wegbereiter der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Deutschlands, die Deutsche Allgemeine Zeitung nannte ihn einen „Blockadebrecher“.[13] 1943 veröffentlichte Edgar von Schmidt-Pauli eine Biographie Bergius´ mit dem bezeichnenden Untertitel „Ein deutscher Erfinder kämpft gegen die englische Blockade“, in der er Bergius´ Forschungen als „patriotische Taten in hohem Sinne“ würdigte.[14]
In den Jahren vor Kriegsbeginn war Bergius auch international ausgezeichnet worden. Im April 1934 verlieh ihm der Herzog von Kent in London die Melchett-Medaille für wissenschaftliche Leistungen.[15] 1937 wurde er zum Vizepräsidenten des internationalen Ausschusses für Ersatzbrennstoffe und zum Ehrenmitglied des Physikalischen Vereins in Frankfurt am Main ernannt.[16] Im Dezember 1937 erhielt er die Wilhelm-Ekner-Medaille vom Niederösterreichischen Gewerbeverein.[17]
Während des Krieges war Bergius laut der Nachkriegsaussage eines SS-Sturmbannführers einer von sechs Chemikern, die für das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) als Kontakt- und V-Leute im Bereich der Auslandsspionage tätig waren. Eine für ihn vorgesehene Kontaktaufnahme mit zwei Professoren in Schweden und geplante Spionagetätigkeiten kamen dieser Quelle zufolge jedoch nicht mehr zustande.[18] In der zweiten Jahreshälfte 1944 zog Bergius nach Österreich, nachdem seine Wohnung in Berlin durch Luftangriffe zerstört worden war.[19]
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchte Bergius sein Verfahren zur Holzverzuckerung als Lösung der Nahrungsmittelprobleme anzubieten und stieß damit bei der neuen Regierung Österreichs, wo die Ernährungslage der Bevölkerung sehr schlecht war, auf Interesse. Im August 1945 präsentierte Bergius in einer Denkschrift sein Konzept und war dabei gleichzeitig bemüht, sich als Geschädigter des Nationalsozialismus zu präsentieren. Ein Vertreter des Auswärtigen Amtes widersprach dieser Darstellung gegenüber der österreichischen Regierung. Im Oktober 1945 erhielt Bergius die österreichische Staatsbürgerschaft, im November gründete er die „Dr. Friedrich Bergius Fabrikationsges.m.b.H.“ und beschäftigte schließlich über 40 Mitarbeiter an drei Standorten. Im Sommer 1946 wurden jedoch etliche seiner Mitarbeiter aufgrund von Wirtschaftsdelikten sowie ihrer NS-Vergangenheit verhaftet. In den österreichischen Medien war daraufhin von „Prof. Bergius und sein[em] Nazistab“ die Rede, und die Regierung beendete die Kooperation.[20]  Im Frühjahr 1947 verließ Bergius Österreich und wirkte in den folgenden Monaten international als Berater beim Wiederaufbau und der Modernisierung chemischer Werke, u.a. in der Schweiz, der Türkei und in Spanien.[21]  Im Herbst 1947 zog er schließlich nach Buenos Aires, wo er als Berater der argentinischen Regierung unter Perón bei der Strukturierung des Energiesektors und dem Aufbau einer eigenen chemischen Industrie tätig wurde. Er verstarb im März 1949 im Alter von 64 Jahren.[22]
Zu Ehren von Bergius wurde 1950 in Hamburg eine Straße nach ihm benannt. In Berlin erhielt 1958 eine neu eröffnete Realschule den Namen „Friedrich-Bergius-Oberschule“, und auch die Bergiusschule in Frankfurt am Main ist nach dem Chemiker benannt.[23]
Text: David Templin