Biografien-Datenbank: NS‑Dabeigewesene

Franz Oehlecker

(19.12.1874 Hamburg – 16.11.1957 Hamburg)
Arzt (Chirurg), Universitätsprofessor
Sierichstraße 55 8Wohnadresse 1943)
Oehleckerring (1963 benannt in Hamburg Langenhorn)
Fuhlsbüttler Straße 756, bestattet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, C 33


Im September 2020 berief die Behörde für Kultur und Medien eine Kommission aus acht Expertinnen und Experten, die Entscheidungskriterien für den Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg entwickeln und Empfehlungen zu möglichen Umbenennungen aussprechen sollte.

Zum Oehleckerring gab die Kommission im März 2022 die Enpfehlung: Umbenennung mit folgender Begründung: „Oehlecker führte am AK Barmbek Hunderte von Zwangssterilisationen durch und hat so bewusst die dauerhafte Schädigung von Menschen herbeigeführt. Da durch die Zwangssterilisationen Menschen bis zu ihrem Lebensende durch den Eingriff geschädigt worden sind, ist eine Umbenennung geboten.“ (Abschlussbericht der Kommission zum Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg, Feb. 2022, www.hamburg.de/contentblob/15965308/8ee2e6d28dbd23e8df84bf75ceabda98/data/empfehlungen-kommission-ns-belastete-strassennamen.pdf)

 

Franz Oehlecker wurde im Dezember 1874 als Sohn eines Zahnarztes in Hamburg geboren.[1] Am Matthias-Claudius-Gymnasium in Wandsbek machte er Abitur, um in der Folge an den Universitäten Leipzig, Tübingen, Kiel, Berlin und Straßburg Medizin zu studieren. Im Juli 1901 absolvierte er die ärztliche Staatsprüfung in Straßburg und erlangte seine Approbation als Arzt. 1902/03 arbeitete er als Hilfsarzt am Städtischen Krankenhaus Friedrichshain in Berlin, wo er eine Ausbildung im pathologischen Institut und der inneren Abteilung absolvierte und im Januar 1903 promoviert wurde. In der Folge arbeitete er als chirurgischer Assistent im Städtischen Krankenhaus Urban (bis September 1905) und als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Kaiserlichen Gesundheitsamt in Dahlem (bis Mai 1907).[2]

1907 zog Oehlecker zurück nach Hamburg und begann als chirurgischer Assistent am Allgemeinen Krankenhaus (AK) Eppendorf zu arbeiten, wo er 1909 zum Sekundärarzt aufstieg. 1912 wechselte er an das AK Barmbek, wo er zwei Jahre später als Leitender Oberarzt die zweite Chirurgische Abteilung übernahm. Im Ersten Weltkrieg wurde er als „unabkömmlich“ vom Wehrdienst befreit. 1915 machte er als Facharzt für Chirurgie eine eigene Praxis auf. 1919 erhielt er an der neugegründeten Hamburgischen Universität die Lehrbefugnis. Im Juni 1923 ernannte ihn die Hochschulbehörde zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor. Im Oktober desselben Jahres wurde er Leiter der ersten chirurgischen Abteilung am AK Barmbeck. Wissenschaftlich trat er mit zahlreichen Veröffentlichungen hervor, vor allem zur Bluttransfusion und Knochen- und Gelenktuberkulose.[3] Seit 1908 gehörte Oehlecker der Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen an. Von 1930 bis 1932 fungierte er als Vorsitzender des Ärztlichen Vereins Hamburg. Im Juli 1932 trat er dem Verband der Krankenhausärzte Deutschlands bei.[4] Einer politischen Partei gehörte er vor 1933 nicht an.[5]

Franz Oehlecker unterzeichnete das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“, das am 11. November 1933 auf einer NS-Feier vorgetragen wurde.[6] Zu diesem Zeitpunkt war er noch kein Parteimitglied, trat im selben Monat aber dem Nationalsozialistischen Lehrerbund bei. 1935 trat er auch der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und wohl auch der Deutschen Arbeitsfront (DAF) bei,[7] bevor er am 1. Juli 1937 seine Aufnahme in die NSDAP beantragte, die rückwirkend zum 1. Mai 1937 erfolgte. Damit war er einer der 13 Chefärzte des AK Barmbek – von insgesamt 15 –, die im „Dritten Reich“ NSDAP-Mitglied wurden.[8] 1938 wurde er Mitglied im NS-Altherrenbund. 1939 war er außerdem Mitglied im Reichsluftschutzbund und im Reichskolonialbund.[9]

Nachdem der nationalsozialistische Staat mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom Juli 1933 die Zwangssterilisierungen von vermeintlich „Erbkranken“ sowie von „schweren Alkoholikern“ auf den Weg gebracht hatte, wurden im Amtlichen Anzeiger Hamburgs vom 31. Dezember 1933 die für die Umsetzung zuständigen Krankenhäuser und Ärzte bestimmt. Darunter war auch Franz Oehlecker für das AK Barmbek.[10] In Hamburg wurden insgesamt rund 22.000 rassenhygienisch begründete Zwangssterilisationen von als „erbkrank“ stigmatisierten Personen durchgeführt.[11] Christine Pieper zufolge berichtete Oehlecker im September 1935 gegenüber einer Gruppe holländischer Ärzte und Fürsorgerinnen von 900 Sterilisationen, die seit Ende März 1934 im Krankenhaus, v.a. bei Patient/innen mit den Diagnosen „Schwachsinn“ oder Schizophrenie, durchgeführt worden seien.[12]

Oehlecker forschte auch zum Thema und hielt entsprechende Vorträge. 1934 diskutierte er in einem Artikel neben entsprechenden medizinischen Techniken auch die Frage von Sterilisationsindikatoren bei Männern, wobei er mit Blick auf angeborene körperliche Behinderungen („schwere erbliche Mißbildung“) eine öffentliche Fachdiskussion über Ausmaß und Handhabe von Sterilisationen einforderte.[13] Dabei sorgte er sich um den öffentlichen Ruf der Sterilisationspolitik im Falle von Komplikationen und plädierte er für ein ärztliches Selbstverständnis als Fachleute, die sich bereitwillig in den Dienst von Propaganda stellten, wenn er schrieb: „Wir Ärzte sind verpflichtet, den Eingriff der Unfruchtbarmachung möglichst schonend zu gestalten, […] damit bald ins Volk hinausgetragen wird, daß die Unfruchtbarmachung des Mannes ein leichter, ungefährlicher Eingriff ist, vor dem man sich nicht zu fürchten braucht.“[14]

Im September 1935 nahm Oehlecker an einem internationalen Kongress für Bluttransfusion in Rom teil.[15] Im Mai 1939 stellte er den Antrag an das Reichsministerium für Wissenschaft, ihn zum außerplanmäßigen Professor zu ernennen, was mit Verweis auf sein hohes Lebensalter abgelehnt wurde. Zuvor hatte der Dekan der Medizinischen Fakultät zugunsten Oehleckers erklärt, dieser sei „ein sehr bekannter Chirurg, der hier in Hamburg größtes Ansehen genießt“.[16] Ein 1940 erfolgter Versuch der Fakultät, Oehlecker nach dem Erlöschen seiner Lehrbefugnis zum Honorarprofessor zu ernennen, scheiterte ebenfalls.[17] 1944 bemühte sich die Fakultät um eine Verleihung der Goethe-Medaille an ihn. Trotz Unterstützung des Hamburger Reichsstatthalters wurde auch aus dieser Ehrung nichts, da die Goethe-Medaille „im Zuge des totalen Kriegseinsatzes“ nicht mehr verliehen wurde. Zuvor hatte das Ministerium verschiedene Professoren nach ihrem Urteil über Oehlecker gefragt, das durchweg sehr gut ausfiel.[18] Im August 1939 wurde Oehlecker als Sanitätsoffizier der Reserve zum Wehrdienst einberufen, den er neben seiner Krankenhaustätigkeit ausübte. 1940 wurde er zum Oberstabsarzt und 1943 zum Oberfeldarzt ernannt.[19]

1945/46 wurde Franz Oehlecker kurzzeitig in ein Internierungslager für höhere Offiziere eingewiesen.[20] Im Anschluss beantragte er seinen Ruhestand am AK Barmbek. Angesichts von Oehleckers vergleichsweise spätem Parteibeitritt hatten Entnazifizierungsausschüsse und Militärregierung 1946 keine Bedenken, ihm die Pension zu bewilligen und eine Fortführung der privaten Arztpraxis zu gestatten.[21] Die Mitglieder des Beratenden Ausschusses erklärten sogar, Oehlecker sei ihnen bestens bekannt, dieser sei „nie ein aktiver Nazi“ gewesen.[22] Über eine etwaige Mitgliedschaft in DAF und NS-Dozentenbund war sich Oehlecker 1945/46 nicht mehr sicher, erklärte jedoch schließlich, beiden Organisationen nicht angehört zu haben.[23]

1950 wurde Oehlecker zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ernannt.[24] 1954 erhielt er das Bundesverdienstkreuz und wurde von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg zum Ehrendoktor ernannt. Im Jahr darauf wurde er auch Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Bluttransfusion.[25] Franz Oehlecker starb im November 1957 im Alter von 82 Jahren.[26] 1963 wurde der Oehleckerring nach dem Arzt benannt.[27] Zu seinem 100. Geburtstag würdigte ihn das Hamburger Ärzteblatt mit einem Artikel, die Neue Zürcher Zeitung sprach 1975 von einem „Pionier der Bluttransfusion“.[28] Die NS-Belastung Oehleckers wurde 2015 in der Hamburger Öffentlichkeit thematisiert, nachdem die an den Oehleckerring angrenzende Max-Nonne-Straße umbenannt worden war.[29]

Text: David Templin